Der folgende Artikel wurde von mir in mehreren Versionen verfasst (erste Version im Oktober 2002, fünfte und vorliegende Version am 2.2.2003) und mehreren Zeitungen und Zeitschriften zur Publikation angeboten. Keine wollte den Artikel allerdings veröffentlichen.
The following article has been written by me in several versions (first version in October 2002, fifth and current version on 2nd February 2003) and has been offered to several newspapers and magazines for publications. None of them wanted to publish it.

Irak: Ein Gerechter Krieg?

Michael Jandl,
Februar 2003

Seit der Wiederaufnahme der Waffeninspektionen im Irak und der Vorlage eines, offenbar unvollständigen, Rüstungsberichts durch die irakische Regierung steuert die Welt in hohem Tempo auf den 3. Golfkrieg zu. Indem die (moralische) Frage ob, wie und wann dieser Krieg zu führen sei medial auf ein einziges Thema reduziert wurde, nämlich ob der Irak Massenvernichtungswaffen besitzt oder nicht, hat man andere ebenso schwerwiegende Fragen aus der Diskussion ausgeblendet. Ist die Moral das erste Opfer des Krieges?

Beginnen wir also von vorne: „Ist in der gegenwärtigen Situation und unter dem gegenwärtigen Wissensstand ein präventiver Angriff auf den Irak moralisch zu rechtfertigen?“ Um Fragen wie diese zu beantworten entwickelten Moralphilosophen die „Doktrin des Gerechten Krieges“ der christlichen Soziallehre, die auch Eingang in völkerrechtliche Normen gefunden hat, weiter. Ein Rückgriff aus diese uralte Diskussion ist aber gerade heute wieder sehr hilfreich.

Es geht hier um zwei eng miteinander verbundene aber doch getrennt zu behandelnde, rechtsethische Fragestellungen: Das Recht zum Krieg (jus ad bellum) und das Recht im Krieg (jus in bello). Der zweite Fragenkomplex betrifft die im Krieg erlaubten Mittel, also das Kriegsrecht und wird an dieser Stelle nicht weiter untersucht. Gleichwohl ist es wichtig zu betonen, dass ein „Gerechter Krieg“ beide Kriterienkataloge zu erfüllen hätte, also sowohl das Recht zum Krieg als auch das Recht im Krieg. Zunächst geht es aber um die Frage ob ein Krieg gegen den Irak zum gegenwärtigen Zeitpunkt auch nur theoretisch ein Gerechter Krieg sein könnte. Laut der Doktrin des Gerechten Krieges wären dazu folgende fünf Bedingungen zu erfüllen:

Erstens, die militärische Intervention muss einem anerkannten „Gerechten Grund“ dienen. Ein Beispiel für einen solchen wäre die Beendigung eines Völkermordes, wobei die völkerrechtliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte in Richtung einer Verbreiterung dieser Bedingung lief und auch schwere Menschenrechtsverletzungen, ethnische Säuberungen oder die brutale, gewalttätige und weitverbreitete Unterdrückung einer Bevölkerung als „Gerechten Grund“ anerkennt.

Die Frage, ob im Falle des heutigen Irak ein solcher Gerechter Grund vorliegt, ist nicht leicht zu beantworten. Saddam Hussein ist sicher ein brutaler Diktator, der große Teile seiner Bevölkerung gewaltsam unterdrückt und selbst zu schwersten Menschenrechtsverletzungen fähig ist, wie er durch Giftgasangriffe auf kurdische Zivilisten bewiesen hat. Diese Feststellung alleine reicht allerdings noch nicht aus, um einen Gerechten Grund darzustellen, denn die Doktrin des Gerechten Krieges nennt noch eine zweite Bedingung dafür, nämlich jene der Richtigen Intention: Um militärische Intervention zu rechtfertigen muss die Absicht des Eingreifenden mit dem Gerechten Grund übereinstimmen. Die Beseitigung des Unrechts durch den Sturz des Diktators quasi als Nebenprodukt der strategischen Absicht, die Vorherrschaft über die Ölreserven am Golf zu gewinnen, reicht also nicht aus. Wenn aber die Verhinderung der Grausamkeiten des Diktators den Gerechten Grund darstellen würde, dann ist die Frage zu stellen, warum das nicht geschehen ist, als er diese in großem Stil verübte. Dieses Argument kann also kaum tauglich als Gerechter Grund gelten.

Was aber, wenn der Gerechte Grund die Beseitigung des Bedrohungspotentials durch Massenvernichtungswaffen wäre? Das Völkerrecht (UN Charta) kennt zwar ein (durch den Sicherheitsrat sanktioniertes) Vorgehen bei einer „Bedrohung des Weltfriedens“, doch kann man davon ausgehen, dass die dafür nötigen Beweise wohl sehr massiv sein müssen. Der bloße Besitz von ABC Waffen hat jedenfalls bislang noch zu keinen militärischen Interventionsforderungen geführt. Oder sollten von nun an alle Staaten, die im „geheimen“ Besitz von Massenvernichtungswaffen sind (Indien, Pakistan, Libyen, Nordkorea,..), legitimes Ziel eines präventiven Angriffs (mit unabsehbaren Folgen für den Weltfrieden) sein? Und was wäre, wenn dieses Beispiel Schule macht und andere Staaten sich auf das Recht auf einen „präventiven Angriff“ berufen? Australien hat jedenfalls schon angekündigt, dasselbe Recht bei Bedrohungen in seiner Nachbarschaft anwenden zu wollen. Kurz, eine „Bedrohung des Weltfriedens“ darf nicht der Interpretation einzelner Staaten überlassen werden.

Drittens, die Intervention muss eine „realistische Erfolgschance“ in Hinsicht auf den Gerechten Grund haben. Diese Bedingung hat zwei Komponenten: Einerseits muss die Erreichung des Ziels ohne die Verletzung anderer wichtiger Kriterien möglich sein, andererseits muss der Gerechte Grund mit ausreichend hoher Wahrscheinlichkeit erreichbar sein. Die erste Komponente bezieht sich dabei vor allem auf das jus in bello, also auf das Kriegsrecht oder die Verwendung gerechter Mittel. Drastisch veranschaulicht bedeutet das: Sicherlich wäre es möglich den Irak flächendeckend mit Atombomben zu belegen und damit die Bedrohung zu eliminieren, doch der dadurch geschaffene Kollateralschaden (ganz zu schweigen von den regionalen und globalen Auswirkungen) wäre bei weitem zu hoch. Wie weit könnte man aber gehen in der Verfolgung der Kriegsziele, wie viele Menschenleben (auf allen Seiten) ist die Beseitigung der Bedrohung wert? 10.000, 100.000, eine Million? Wie viele verzweifelte Menschen von den zu erwartenden Flüchtlingsströmen ist der Westen bereit aufzunehmen? 50.000? 500.000? 5 Millionen? Aber auch diese Diskussion wurde aus der medialen Diskussion gezielt ausgeblendet.

Nun zur zweiten Komponente der vorliegenden Bedingung: Die Erreichung des Kriegsziels (also die Beseitigung der Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen) muss mit hoher Wahrscheinlichkeit erreichbar sein. Meiner Ansicht nach wird diese Bedingung nicht ausreichend erfüllt. Strategische Studien zur Frage eines Angriffs auf den Irak weisen hier vor allem auf die Gefahr der Aufspaltung der irakischen Armee in unabhängige Teile mit anhaltendem Zugriff auf Mittelstreckenraketen hin. Und wir wissen inzwischen, dass eine reale Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen auch durch andere, örtlich ungebundene ABC Waffen in der Hand von einzelnen ausgeht (z.B. sogenannte „Kofferbomben“, „Schmutzige Bomben“ oder biologische Krankheitserreger). Diese Gefahr kann durch einen militärischen Angriff keineswegs beseitigt, die Entschlossenheit zu ihrer Anwendung aber allenfalls erhöht werden.

Dieses letzte Argument ist auch der Grund, warum ich die Bekämpfung von Terrorismus als möglichen Gerechten Grund bisher noch nicht genannt habe, weil es mir offensichtlich erscheint, dass durch einen Angriff auf den Irak die Verhinderung von terroristischen Anschlägen keinesfalls eine „realistische Erfolgschance“ hat. Selbst wenn Verbindungen zu klar definierten Staaten und Einzelpersonen durch geheimdienstliche Arbeit aufgedeckt werden können, bietet die dezentrale Struktur in autonomen Terrorzellen nicht den einen Angriffspunkt, der für einen herkömmlichen militärischen Angriff fassbar wäre. Hier bedarf es anderer, am ehesten wohl „polizeilicher“, Methoden. Ein militärischer Angriff hingegen hat keine „realistische Chance“ die Terrorismusbedrohung abzustellen, sondern würde diese sogar noch erhöhen. Dadurch wäre aber die oben genannte dritte Bedingung nicht erfüllt.

Die vierte Bedingung der Doktrin des Gerechten Krieges lautet, dass der Einsatz militärischer Gewalt nur als „letztes Mittel“ verwendet werden darf, d.h. erst nach Ausschöpfung aller anderen Mittel zur Erreichung des Gerechten Grunds. Leider wurde diese Frage in der öffentlichen Diskussion darauf reduziert ob zum gegenwärtigen Zeitpunkt schon ausreichend Beweise für eine mittel- oder unmittelbare Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen im Irak vorliegen. Die weitergehende Frage, ob es in diesem Fall auch andere alternative Lösungsansätze mit realistischer Aussicht auf Erfolg gäbe, wird nicht mehr gestellt. Die Bedingung, dass Krieg nur als „letztes Mittel“ verwendet werden darf, ist aber klar und, wenn man sie einmal in dieser Schärfe stellt, eigentlich auch allgemein anerkannt.

Die fünfte und letzte Bedingung der Theorie des Gerechten Krieges schließlich, nämlich die Autorisierung der militärischen Intervention durch eine angemessene und zuständige internationale Organisation, wird heute gerne auf die Frage einer formalen Beschlussfassung durch den UN Sicherheitsrat reduziert. Es ist wohl zu erwarten, dass dieser die medial derart reduzierten Ansprüche seines (westlichen) Publikums erfüllen wird indem er die Anwendung „aller Mittel“ gegen den Irak für legitim erklärt. Aber dann haben wir (alle) ja, quasi per definitionem, kein (moralisches) Problem mehr und die Dinge werden ihren Lauf nehmen ohne uns den „Gerechten Schlaf“ zu rauben. Die Iraker (alle) haben es ja so gewollt!

Michael Jandl
Wien, 2. Februar 2003



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