Die vorliegende ex-post Analyse untersucht die neue Stimmverteilung im EU Ministerrat, wie sie im Dezember 2000 am EU Gipfel in Nizza beschlossen wurde. Sie wird per 1.1.2005 für die 15 derzeitigen EU Mitglieder in Kraft treten und für die zukünftigen EU Mitglieder per diesem Datum oder zum Zeitpunkt ihres Beitritts zur EU, was immer davon später eintritt.

This paper provides an ex-post analysis of the future distribution of votes in the EU Council of Ministers, as it had been decided at the EU Summit of Nice in December 2000. It will be applicable for the 15 current EU member states as of 1.1.2005 and for future member states as of this date or upon their accession to the EU, whichever comes later.


Die Erweiterung der EU
und die Stimmverteilung im EU Ministerrat nach Nizza

Möglichkeiten für eine "Mitteleuropa-Koalition"?

Erhard Busek und Michael Jandl
Jänner 2001


 


Die vorliegende Analyse geht drei bedeutsamen Fragen im Zusammenhang mit der bevorstehenden Erweiterung der EU-15 und der dadurch nötig gewordenen Neugewichtung der Stimmverteilungen im EU Ministerrat nach:

1. Welche Konsequenzen ergeben sich aus den Neugewichtungen der Stimmen, die beim Europäischen Rat in Nizza im Dezember 2000 beschlossen wurden und wie ist diese Neugewichtung unter den Gesichtspunkten der Effizienz und Gerechtigkeit zu bewerten?

2. Welche möglichen Koalitionen für das Zustandekommen von einfachen Mehrheiten, qualifizierten Mehrheiten und Sperrminoritäten ergeben sich dadurch?

3. Gibt es die Möglichkeit einer potentiellen "Mitteleuropa-Koalition" im EU Ministerrat in einer EU-21 und einer EU-27 und welche Form könnte diese annehmen?

Die Ergebnisse von Nizza

Die Verhandlungen in Nizza ergaben eine moderate Neuverteilung der Stimmen im Ministerrat, durch die die Gesamtstimmenanzahl von 87 auf schließlich 345 in einer EU-27 ausgeweitet werden wird. Dadurch werden alle 15 derzeitigen MS ab 1.1. 2005 zumindest nominell mehr Stimmen bekommen, auch wenn sie – nach der Erweiterung – alle relativ geringeres Gewicht haben werden. Gleichzeitig wurde die Anzahl der Ministerratsstimmen festgelegt, die den künftigen EU-Mitgliedern bei ihrem Beitritt zugesprochen werden (siehe Tabelle 1).
 
 
 
Tabelle 1: Das Gewicht der Mitgliedsstaaten (MS) im EU-Ministerrat nach der Erweiterung
MS
Bevölkerung 1997
Stimmen im Rat
(x1000)
derzeitige
nach Nizza
G
81,661
10
29
UK
58,606
10
29
FR
58,198
10
29
I
57,301
10
29
E
39,210
8
27
NL
15,459
5
13
GR
10,454
5
12
B
10,137
5
12
P
9,917
5
12
S
8,827
4
10
A
8,047
4
10
DK
5,228
3
7
FIN
5,108
3
7
IRL
3,598
3
7
LX
410
2
4
EU-15
372,161
87
237
PL
38,650
8
27
CZ
10,304
5
12
H
10,155
5
12
SLO
1,986
3
4
EE
1,458
3
4
CY
747
2
4
EU-21
435,461
113
300
ROM
22,554
6
14
BLG
8,312
4
10
SLK
5,383
3
7
LIT
3,706
3
7
LAT
2,465
3
4
MAL
375
2
3
EU-27
478,256
134
345

Qualifizierte Mehrheiten und Sperrminoritäten

Die Anzahl der Politikbereiche, in denen der Ministerrat mit qualifizierte Mehrheit (QM) entscheiden kann, wurde ausgeweitet. Ab der ersten Erweiterung wird eine Mehrheit im Ministerrat auch mindestens 62 % der Bevölkerung repräsentieren müssen. Zusätzlich muss für einen qualifizierten Mehrheitsbeschluss künftig explizit die Bedingung erfüllt sein, dass mindestens die einfache Mehrheit der Mitgliedstaaten zustimmt (Bisher war diese Bedingung auf Grund der Gewichtungen implizit erfüllt). Ab 27 Mitgliedsländern wird schließlich die Schwelle für die Sperrminorität (Veto) von 88 auf 91 Stimmen angehoben werden, wodurch eine qualifizierte Mehrheit erst mit 255 Stimmen oder 73,9 % zustande kommen kann. Es ergeben sich folgende Schwellen für Qualifizierte Mehrheiten und Sperrminoritäten für eine (mögliche) EU-21 mit den Beitrittskandidaten der ersten Gruppe (Luxemburg Gruppe) und darauf für eine mögliche EU-27, die auch alle Kandidaten der zweiten Gruppe (Helsinki Gruppe) mit einschließt:
 
 
 
EU-Ministerrat: Qualifizierte Mehrheit und Sperrminorität (Vetomacht)
EU-12 EU-15 EU-21 EU-27
Gesamtstimmen
76
87
300
345
QM 
54
62
213
255
Veto 
23
26
88
91
QM-%
71%
71%
71.0%
73.9%
Veto-%
30%
30%
29.3%
26.4%
Gesamtbevölkerung in 1.000
435,461
478,256
QM 
269,986
296,519
Veto 
165,475
181,737
QM-%
62%
62%
Veto-%
38%
38%

Bewertung der Neugewichtung von Nizza

Die Aufteilung der in Nizza beschlossenen zukünftigen Stimmverteilung könnte zusammenfassend so bewertet werden:

Szenarien für eine EU-21 (vgl. die Szenarien 1 bis 6 im Anhang)

Auf Grundlage der neu beschlossenen Stimmverteilung im EU Ministerrat ergeben sich eine Reihe von interessanten Abstimmungskonstellationen für das Zustandekommen einer QM oder einer Sperrminorität.

Im Folgenden werden einige Konstellationen beispielhaft aufgeführt, zunächst wiederum für eine (mögliche) EU-21 mit den Beitrittskandidaten der ersten Gruppe (Luxemburg Gruppe) und darauf für eine mögliche EU-27, die auch alle Kandidaten der zweiten Gruppe (Helsinki Gruppe) mit einschließt.

1) Die kleinstmögliche Sperrminorität nach Bevölkerung wird in einer EU-21 bei immerhin 11 kleinen und mittleren Ländern liegen, die zusammen allerdings nur 14,6 % der Gesamtbevölkerung der EU-21 ausmachen.

2) Durch die Einführung der "Bevölkerungsklausel" von mindestens 62 % kann D auch in Zukunft zusammen mit 2 anderen großen Länder (z.B. mit UK oder FR oder I und E oder PL) zusammen eine QM verhindern, obwohl sie durch ihre Stimmen im MR keine Sperrminorität hätten.

3) Die Anforderungen für das Zustandekommen einer QM werden also enorm steigen – und hier kommt es vor allem auf die "großen" Länder an. Gegen den Willen von 2 großen Ländern wird es schon extrem schwer eine QM zu erhalten, das setzt eine Koalition fast aller anderen Länder voraus (im Beispiel 16 MS).

4) Aber selbst die 6 großen Länder werden in Zukunft eine beträchtliche Anzahl von kleinen (oder mittleren) Ländern als Partner für eine QM brauchen (im Beispiel die 7 kleinsten MS ohne MAL).

5) Das Gewicht der 6 neuen MS der "Luxemburg Gruppe" wird zusammen 21 % der Stimmen im Ministerrat ausmachen, obwohl sie nur 14,5 % der Bevölkerung einer EU-21 stellen werden.

6) Schließlich läge die Chance einer möglichen "Mitteleuropa-Koalition" im Ministerrat nur im Zustandekommen einer Sperrminorität, wobei hier neben PL, CZ, H und A auch Italien als unverzichtbarer Partner in Frage kommt.

     
    Szenarien für eine EU-27 (vgl. die Szenarien 7 bis 12 im Anhang)
7) Die kleinstmögliche Sperrminorität nach Bevölkerung wird in einer EU-27 bei immerhin 14 kleinen und mittleren Ländern liegen, die zusammen allerdings nur mehr 12,6 % der Gesamtbevölkerung der EU-27 ausmachen.

8) Durch die Einführung der "Bevölkerungsklausel" von mindestens 62 % kann D auch in Zukunft zusammen mit 2 anderen großen Länder (UK, FR, I) zusammen eine QM verhindern, obwohl sie durch ihre Stimmen im MR keine Sperrminorität hätten.

9) Die Anforderungen für das Zustandekommen einer QM werden in einer EU-27 noch weiter steigen – und es kommt auch weiterhin vor allem auf die "großen" Länder an. Gegen den Willen von 3 großen Ländern käme in einer EU-27 zwar theoretisch ein QM nach Ministerratsstimmen zusammen, hier greift allerdings die Bevölkerungsklausel der 62 % (siehe Punkt 8).

10) In der EU-27 wird es selbst den 6 großen Ländern noch schwerer fallen eine QM zustande zu bringen. Sie brauchen dazu erhebliche Unterstützung der mittleren und kleinen Länder (im Beispiel die 13 kleinsten MS ohne MAL).

11) Das Gewicht der 12 neuen MS der "Luxemburg und Helsinki Gruppe" wird zusammen immerhin 31,3 % der Stimmen im Ministerrat ausmachen, obwohl sie nur 22,2 % der Bevölkerung einer EU-27 stellen werden.

12) Schließlich läge die Chance einer möglichen "Mitteleuropa-Koalition" im Ministerrat selbst in einer EU-27 nur im Zustandekommen einer Sperrminorität, wobei hier alle zentraleuropäischen MS zusammen (auch ohne SLO) eine Sperrminorität im Ministerrat bilden könnten.
 
 


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Anhang
 
Szenario 1: Kleinstmögliche Sperrminorität, EU-21
Land
Bevölkerung 1997
Stimmen
(x 1000)
im Rat
H
10,155
12
B
10,137
12
P
9,917
12
S
8,827
10
A
8,047
10
DK
5,228
7
FIN
5,108
7
IRL
3,598
7
EE
1,458
4
CY
747
4
LX
410
4
Gesamt
63,632
89
in % der EU-21
14.6%
29.7%
Szenario 2: Bevölkerungs-Veto, EU-21
Land
Bevölkerung 1997
Stimmen
(x 1000)
im Rat
G
81,661
29
FR
58,198
29
PL
38,650
27
Gesamt
178,509
85
In % der EU-21
41.0%
28.3%

 
Szenario 3: Kleinstmögliche qualifizierte Mehrheit, EU-21
Land
Bevölkerung 1997
Stimmen
(x 1000)
im Rat
FR
58,198
29
I
57,301
29
E
39,210
27
PL
38,650
27
CZ
10,304
12
H
10,155
12
B
10,137
12
P
9,917
12
S
8,827
10
A
8,047
10
DK
5,228
7
FIN
5,108
7
IRL
3,598
7
EE
1,458
4
CY
747
4
LX
410
4
Gesamt
267,295
213
In % der EU-21
61.4%
71.0%
Szenario 4: Qualifizierte Mehrheit durch "Große" und "Kleine", EU-21
Land
Bevölkerung 1997
Stimmen
(x 1000)
im Rat
G
81,661
29
UK
58,606
29
FR
58,198
29
I
57,301
29
E
39,210
27
PL
38,650
27
A
8,047
10
DK
5,228
7
FIN
5,108
7
IRL
3,598
7
SLO
1,986
4
EE
1,458
4
CY
747
4
Gesamt
359,798
213
In % der EU-21
82.6%
71.0%

 
Szenario 5: Das Gewicht der 6 neuen EU-Mitglieder, EU-21
Land
Bevölkerung 1997
Stimmen
(x 1000)
Im Rat
PL
38,650
27
CZ
10,304
12
H
10,155
12
SLO
1,986
4
EE
1,458
4
CY
747
4
Gesamt
63,300
63
In % der EU-21
14.5%
21.0%
Szenario 6: Mitteleuropa-Koalition in der EU-21
Land
Bevölkerung 1997
Stimmen
(x 1000)
im Rat
I
57,301
29
PL
38,650
27
CZ
10,304
12
H
10,155
12
A
8,047
10
Gesamt
124,457
90
In % der EU-21
28.6%
30.0%

 
Szenario 7: Kleinstmögliche Sperrminorität, EU-27
Land
Bevölkerung 1997
Stimmen
(x 1000)
im Rat
P
9,917
12
S
8,827
10
BLG
8,312
10
A
8,047
10
DK
5,228
7
FIN
5,108
7
LIT
3,706
7
IRL
3,598
7
LAT
2,465
4
SLO
1,986
4
EE
1,458
4
CY
747
4
LX
410
4
MAL
375
3
Gesamt
60,184
93
in % der EU-21
12.6%
27.0%
Szenario 8: Bevölkerungs-Veto, EU-27
Land
Bevölkerung 1997
Stimmen
(x 1000)
im Rat
G
81,661
29
FR
58,198
29
I
57,301
29
Gesamt
197,160
87
In % der EU-27
41.2%
25.2%

 
Szenario 9: Kleinstmögliche qualifizierte Mehrheit, EU-27
Land
Bevölkerung 1997
Stimmen
(x 1000)
im Rat
I
57,301
29
E
39,210
27
PL
38,650
27
ROM
22,554
14
NL
15,459
13
GR
10,454
12
CZ
10,304
12
H
10,155
12
B
10,137
12
P
9,917
12
S
8,827
10
BLG
8,312
10
A
8,047
10
SLK
5,383
7
DK
5,228
7
FIN
5,108
7
LIT
3,706
7
IRL
3,598
7
LAT
2,465
4
SLO
1,986
4
EE
1,458
4
CY
747
4
LX
410
4
Gesamt
279,416
255
in % der EU-27
58.4%
73.9%

 
Szenario 10: Qualifizierte Mehrheit durch "Große" und "Kleine", EU-27
Land
Bevölkerung 1997
Stimmen
(x 1000)
im Rat
G
81,661
29
UK
58,606
29
FR
58,198
29
I
57,301
29
E
39,210
27
PL
38,650
27
S
8,827
10
BLG
8,312
10
A
8,047
10
SLK
5,383
7
DK
5,228
7
FIN
5,108
7
LIT
3,706
7
IRL
3,598
7
LAT
2,465
4
SLO
1,986
4
EE
1,458
4
CY
747
4
LX
410
4
Gesamt
388,901
255
in % der EU-27
81.3%
73.9%
Szenario 11: Das Gewicht der 12 neuen EU-Mitglieder, EU-27
Land
Bevölkerung 1997
Stimmen
(x 1000)
im Rat
PL
38,650
27
ROM
22,554
14
CZ
10,304
12
H
10,155
12
BLG
8,312
10
SLK
5,383
7
LIT
3,706
7
LAT
2,465
4
SLO
1,986
4
EE
1,458
4
CY
747
4
MAL
375
3
Gesamt
106,095
108
in % der EU-27
22.2%
31.3%

 
Szenario 12: Mitteleuropa-Koalition in der EU-27
Land
Bevölkerung 1997
Stimmen
(x 1000)
im Rat
PL
38,650
27
ROM
22,554
14
CZ
10,304
12
H
10,155
12
BLG
8,312
10
A
8,047
10
SLK
5,383
7
SLO
1,986
4
Gesamt
105,391
96
in % der EU-27
22.0%
27.8%



Die vorliegende Ex-post Analyse untersucht die neue Stimmverteilung im EU Ministerrat, wie sie im Dezember 2000 am EU Gipfel in Nizza beschlossen wurde. Sie wird per 1.1.2005 für die 15 derzeitigen EU Mitglieder in Kraft treten und für die zukünftigen EU Mitglieder per diesem Datum oder zum Zeitpunkt ihres Beitritts zur EU, was immer davon später eintritt.

This paper provides an ex-post analysis of the future distribution of votes in the EU Council of Ministers, as it had been decided at the EU Summit of Nice in December 2000. It will be applicable for the 15 current EU member states as of 1.1.2005 and for future member states as of this date or upon their accession to the EU, whichever comes later.
 



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