Michael Jandl, Mai 2001
Im Herbst 2000, sozusagen in den letzten Minuten des 20. Jahrhunderts, kamen ermutigende Anzeichen aus der südöstlichen Ecke Europas. Der permanente Unruheherd Balkan schien endgültig im Umbruch begriffen zu sein. Mit dem Abtreten von Slobodan Milosevic und der Übernahme der Macht in Serbien durch eine demokratische Regierung schien der Grundstein für eine bessere Zukunft der ganzen Region gelegt. Schon hoffte man, dass ethnische Konflikte jetzt der Vergangenheit angehören würden und die verbliebenen Spannungen auf friedlichem Wege gelöst werden könnten. Doch bereits die ersten Monate des Jahres 2001 rissen die Welt aus ihren optimistischen Träumen. Mit dem Auftreten einer neuen, bewaffneten “Befreiungsarmee” in Mazedonien, einer “neuen” UCK-MD mit vielen Verbindungen zur “alten” UCK im Kosovo, die offiziell ja schon lange von der KFOR aufgelöst sein sollte, sieht sich die internationale Gemeinschaft abermals mit der Gefahr eines verheerenden Krieges am Balkan konfrontiert. In der Tat stellen die Anfang dieses Jahres aufgeflammten Kämpfe im Norden und Nordwesten Mazedoniens die Frage nach der Zukunft Mazedoniens neu. Doch aus der “Mazedonischen Frage”, dem Streit zwischen Bulgarien, Griechenland und Serbien um Mazedonien Anfang des 20 Jahrhunderts, ist inzwischen längst eine “Albanische Frage” geworden – die Frage nach der Selbstbestimmung der Albaner in Südosteuropa.
Noch eine letzte Chance für Verhandlungen ?
Ende Jänner dieses Jahres kam es zu den ersten Anschlägen einer Rebellengruppierung, die bald als “UCK” (Ushtria Clirimtare Kombetare, Nationale Befreiungsarmee) in Anlehnung an die ehemalige kosovo-albanische UCK (Ushtria Clirimtare e Kosovoes – Befreiungsarmee Kosovo) zu erkennen gab und in ihren Kommuniques für die nationale Sache der Albaner eintrat. In der Folge kam es zu bewaffneten Auseinandersetzungen mit der mazedonischen Polizei und Armee, die sich bis zum März in einen Stellungskrieg in den Bergen Nordmazedoniens ausweiteten und mehrere Dutzend Tote forderten. Nach einer Großoffensive der staatlichen Sicherheitskräfte zogen sich die Rebellen zunächst zurück und verschwanden in den Bergen oder in der Bevölkerung.
Einige Wochen lang hielt eine ungewisse Waffenruhe, die vor allem vom hektischen Bemühen internationaler Vermittler, allen voran der EU in Gestalt ihres Hohen Repräsentanten Javier Solana, gekennzeichnet waren, die Lage durch Ingangsetzung eines echten Reformprozesses zu entschärfen. Doch die erzwungenen Allparteiengespräche brachten wenig konkretes und im Umgang mit den Extremisten, die vom offiziellen Verhandlungsprozess ausgeschlossen blieben, wurde wertvolle Zeit verschwendet. Allein auf die Verschiebung der Volkszählung konnte man sich einigen, der Dialog über Verfassungsreformen wurde auf später verschoben. Schon Ende April kam es zu einer neuerlichen Eskalation der Lage durch zwei bewaffnete Überfälle auf mazedonische Polizeipatrouillen, bei denen 8 Angehörige der mazedonischen Sicherheitskräfte getötet wurden. Die darauf wieder einsetzenden Gefechte zwischen mazedonischen Sicherheitstruppen und verschanzten UCK Gruppen, forderten bis Mitte Mai wiederum mehrere Dutzend Tote. Inzwischen kam es auch bereits zu den ersten schweren Zusammenstößen zwischen Zivilisten beider Volksgruppen. In der südmazedonischen Stadt Bitola kam es zu Ausschreitungen gegen albanische Geschäftslokale und Cafes und auch in der Hauptstadt Skopje kam es zu den ersten Übergriffen gegen nicht-slawische Einwohner. All das lässt eine fortschreitende Radikalisierung der Bevölkerungsgruppen fürchten, bis hin zu einer Eskalation in einen neuerlichen Bürgerkrieg am Balkan.
Schon lange haben alle beteiligte Akteure und insbesondere die westlichen Akteure am Balkan den Ernst der Lage erkannt und suchen fieberhaft nach einem Ausweg aus der Krise. Man hofft, dass - bei entsprechendem Willen der albanischen und slawischen Bevölkerungsteile in Mazedonien, und mit Hilfe entschiedener Unterstützung eines friedlichen Ausgleichs durch die westliche Staatengemeinschaft – die bestehenden Differenzen und Forderungen noch auf dem Verhandlungsweg gelöst werden können. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die gemäßigten Stimmen aller Seiten die Oberhand behalten und nicht durch Druck und gewalttätige Aktionen extremistischer Gruppen übertönt werden.
Mehr Rechte für die albanische Volksgruppe
Für die beiden großen albanischen Parteien im Parlament, die im Gegensatz zu den Rebellen an diesen Verhandlungen beteiligt sein sollten, impliziert das vor allem, dass sie rasch Erfolge durch Verhandlungen vorweisen können. Da sich die deklarierten Ziele der Rebellen ja nicht in deren Substanz, sondern nur im gewählten Mittel ihrer Erreichung (durch Gewalt vs. durch den demokratischen Prozess), von denen der albanischen Parteien im mazedonischen Parlament unterscheiden, könnten bedeutende Fortschritte durch Verhandlungen den Extremisten noch immer die Legitimität in den Augen der Bevölkerung entziehen.
Worin aber bestehen die Forderungen der albanischen Parteien im Detail? Listet man die gesamte Palette der bisher erhobenen Ansprüche einmal auf, so kommt man auf einen ganz erheblichen Forderungskatalog:
- Verfassungsrechtliche Anerkennung der Albaner als Teil des Staatsvolkes;
- Anerkennung des Albanischen als zweite Amtssprache;
- Ausweitung der kulturellen Rechte (wie z.B. eine angemessenen Quote
an albanischsprachigem Programm im staatlichen Fernsehen);
- Legalisierung der albanischsprachigen Universität in Tetovo
(d.h. mehr als nur eine “internationale” Universität wird die Forderung
nach einer “staatlichen” Universität mit allen damit verbundenen Rechten
wie finanziellen Zuwendungen und Anerkennung der Abschlüsse erhoben);
- Ein neuer Zensus unter internationaler Aufsicht (wobei insbesondere
auch alle albanischen Einwohner ohne Staatsbürgerschaft und Papiere
gezählt werden sollten);
- Besetzung von Führungspositionen in Armee, Polizei und Verwaltung
gemäß Bevölkerungsanteil;
- Ein hohes Maß an regionaler Selbstverwaltung für mehrheitlich
albanische Gemeinden.
Gerade die letzte Forderung ist allerdings auch in der albanischen Gesellschaft heftig umstritten; denn während die gemäßigtere Albanerpartei DPA gegen eine Föderalisierung auf regionaler Basis ist (da etwa 100.000 Albaner verstreut in ganz Mazedonien leben, vor allem um und in der Hauptstadt Skopje), fordert die UCK eine regionale Autonomie bis hin zur Föderalisierung des Staates Mazedoniens.
Wenn nur einige dieser Ziele für die albanische Gesellschaft durch den Verhandlungsprozess in greifbare Nähe rücken, müsste die albanische Zivilgesellschaft Druck auf alle albanischen Parteien in Mazedonien ausüben, für ein friedliches Verfolgen der gemeinsamen Interessen zu arbeiten. Erst wenn die überwiegende Mehrheit der Zivilbevölkerung den gewalttätigen Aktionen der UCK ihre mehr oder weniger offene Sympathie und Unterstützung entzieht, und der Zulauf zu den Rebellengruppen gestoppt ist, wird sich die UCK für einen ungestörten Verhandlungsprozess entscheiden, in dem sie auch über ihren politischen Arm, die neu gegründete albanische Partei PDK, beteiligt wäre.
Die Angst vor dem Domino-Effekt
Umgekehrt hängen die erzielbaren Verhandlungsfortschritte natürlich primär vom Willen der slawisch-mazedonischen Parteien ab, haltbare Kompromisse zu finden und diese dann auch tatsächlich umzusetzen. Ein großes Hindernis auf diesem Weg ist zunächst das Misstrauen, das der albanischen Bevölkerung im Allgemeinen und deren Bekenntnis zu den staatlichen mazedonischen Strukturen im Besonderen entgegengebracht wird. Denn die mazedonische Regierung lehnte die meisten Forderungen der Albaner vor allem deshalb bisher hartnäckig ab, weil die Angst besteht, diese seien nur Vorstufen zu weitergehenden Schritten auf dem Weg zur Sezession in einer Art “Dominoeffekt” von Autonomie – Föderalisierung – Kantonisierung – Abspaltung. Hier wäre es hilfreich, wenn die albanischen Parteien und die albanische Zivilgesellschaft zunächst die Unveränderbarkeit der Grenzen anerkennt und Extremismus in jeder Form glaubwürdig ablehnt. Wichtig ist auch, dass die slawisch-mazedonische Seite das Gefühl hat, bei dem Verhandlungsprozess nicht nur verlieren, sondern im Gegenzug auch etwas gewinnen zu können. Oberste Priorität muss hier zunächst die Sicherheit der Zivilbevölkerung haben. Albanische Polizisten und Soldaten dürfen nicht mehr als Sicherheitsrisiko, sondern müssen als integrale Bestandteile der Sicherheit aller Bevölkerungsgruppen gesehen werden. So könnten etwa gemischt slawisch-albanische Verteidigungskomitees unter internationaler Aufsicht zum Schutz der gesamten Zivilbevölkerung dienen.
Entscheidend wird sein, einen Konsens unter allen slawischen Parteien herbeizuführen, substantielle Zugeständnisse (z.B. in der Frage des Status der albanischen Sprache) mitzutragen und in Zukunft auch unter geänderten politischen Konstellationen umzusetzen. Die Bildung einer großen Reformkoalition (Regierung der nationalen Einheit) unter Einbeziehung der 4 wichtigsten slawisch-mazedonischen und albanischen Parteien im Parlament war nur der erste, wenn auch überaus wichtige, Schritt in diese Richtung. Die bisherige (sozialdemokratische) Oppositionspartei SDSM hat der Koaltion mit der schon bisher regierenden VMRO-DPMNE (Innere Mazedonische Revolutionäre Organisation - Demokratische Partei der nationalen Einheit) nämlich nur unter der Bedingung der Vorverlegung der Wahlen 2002 zugestimmt um vom Popularitätstief der VRME zu profitieren.
Denn die VMRO-DPMNE wird die nächsten Wahlen 2002 kaum gewinnen, schon alleine wegen der Anfang 2001 ins Licht der Öffentlichkeit gelangten Korruptions- und Abhörskandale nicht. Wenn sie jetzt Kompromissen zustimmt, die danach von einer neuen Regierung – wahrscheinlich unter der sozialdemokratischen Partei SDSM – nicht eingehalten werden, wird eine politische Lösung nicht von Dauer sein. Das wissen aber auch die gewaltbereiten Rebellengruppen, die sich in diesem Fall immer die Option auf eine rasche Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes offen halten werden.
Die Partei der Demokratischen Prosperität (PDP), die radikalere der beiden albanischen Parteien in der Allparteienregierung, hat dem Abkommen auch nur unter dem Versprechen eines einseitiger Waffenstillstand der Regierung zugestimmt, der zum Zeitpunkt des Verfassen dieses Artikels (Mitte Mai) allerdings schon wieder in Auflösung begriffen war. Die UCK, die weiterhin von den Verhandlungen ausgeschlossen bleibt, hat sich nämlich schon festgelegt und lehnt die neue Regierung ebenso wie das an sie gestellte Ultimatum zur Waffenabgabe ab und will offenbar mit ihrer hit-and-run Taktik eine rasche Radikalisierung der Bevölkerung vorantreiben.
Die Rolle des Westens
Um einen dauerhaften Interessenausgleich auf friedlichem Wege erreichen zu können, ist aus all den genannten Gründen die massive Unterstützung westlicher Staaten nötig. Und anders als in den bisherigen Balkankrisen hat der Einsatz der EU zur Beruhigung der Lage seit Ausbruch der Krise bereits beträchtliche positive Resultate erzielt. Zuletzt trug die EU noch Anfang Mai dazu bei die Ausrufung des Kriegsrechts noch in letzter Minute zu verhindern. Das darauf folgende Zustandekommen der Allparteienregierung wäre ohne den Druck der EU wohl nicht möglich gewesen. Und noch Anfang April wurde das schon lange geplante Assoziierungsabkommen mit der EU unterzeichnet, in dem sich Mazedonien bereiterklärt hat, demokratische Prinzipien, Menschen- und Minderheitenrechte anzuerkennen. Die Aussicht auf schrittweise Einbindung in den europäischen Integrationsprozess und einer späteren Beitrittspartnerschaft gibt der EU das erste Mal ein ernstzunehmendes Instrument zur Friedensschaffung am Balkan in die Hand. Die Auszahlung der damit verbundenen Hilfsmittel (insgesamt 120 Millionen Euro allein im laufenden Jahr) stellen auch einen wichtigen Preis dar, der nicht ohne entsprechende Zugeständnisse in den Verhandlungen verschleudert werden darf. Denn die Verbesserung der sozialen Lage aller in Mazedonien lebenden Menschen ist die Chance für die EU, einen entscheidenden Durchbruch in den schwierigen Verhandlungen zu erzielen. Wirtschaftliche Unterstützung und finanzielle Anreize zu einer konstruktiven Haltung in diesem Konflikt sind allerdings auch für die umgebende Region nötig – ob diese zusätzliche Wirtschaftshilfe über den Balkan Stabilitätspakt abgewickelt wird oder nicht ist dabei weniger wichtig als die strikte Konditionalität der Gelder an eine konstruktive Haltung im slawisch-albanischen Dialog.
Daneben besteht natürlich auch eine wichtige Rolle für die anderen westlichen Akteure in Südosteuropa. Die OSZE sollte in die Überwachung des Waffenstillstands eingebunden werden und könnte bei einem entsprechendem Abkommen ein Programm zur Entmilitarisierung und Abrüstung der Kämpfer entwerfen und umsetzen. Besser als nach bisherigen Nachkriegsprogrammen am Balkan sollte auch die Rückkehr der ehemaligen Rebellen ins Zivilleben organisiert werden. Denkbar ist etwa die Durchführung eigener Jobprogramme für abgerüstete Rebellen, ein Gebiet auf dem die UNO in anderen Krisenregionen bereits beträchtliche Erfahrungen gesammelt hat. Neben diesen kurzfristigen Programmen zur Bewältigung der akuten wirtschaftlichen Probleme ist es aber die langfristige wirtschaftliche Entwicklung der Region, die nachhaltig zum Abbau der sozialen und wirtschaftlichen Krise beitragen kann und die deshalb mit verstärkten Anstrengungen verfolgt werden muss. Denn nach einem Jahrzehnt rückschrittlicher wirtschaftlicher Entwicklung in Mazedonien hat heute mehr als die Hälfte der Bevölkerung weniger Geld zur Verfügung als noch 1990. Ein Fünftel der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze. Die Arbeitslosigkeit beträgt heute rund 40 %, davon sind die Hälfte junge Menschen. Der Jugend eine bessere Perspektive zu bieten als sich im sinnlosen Kampf zu behaupten, wird auch hier der Schlüssel zum dauerhaften Frieden sein.
Dr. Michael Jandl ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut
für den Donauraum und Mitteleuropa in Wien.