Dieser Artikel erschien etwas gekürtzt unter dem Titel "Es fehlten die Polizisten" (Untertitel: "Multethnisches Kosovo?") in der Österreichischen Wochenzeitschrift "Die Furche" vom 4. November 1999.

Kosov@ muß multi-ethnisch bleiben

Michael Jandl

Ist das multi-ethnische Kosovo nun tot oder wurde hier etwas übersehen?
Ein Streifzug durch die ethnische Landschaft im südlichen Kosovo


 


Nach der Rückkehr von etwa 800.000 kosovo-albanischen Flüchtlingen in ihre Heimat und dem zeitgleichen Exodus von mehr als 200.000 Serben und Roma bilden die Kosovo-Albaner wieder die überwältigende Mehrheit im Kosovo. Dabei wird oft übersehen, daß hier noch eine Vielzahl von anderen Volksgruppen ihre traditionelle Heimat hat. Damit das auch so bleibt wird es verstärkte Anstrengungen der internationalen Übergangsverwaltung bedürfen.

In der gekürzten Version der Medienberichterstattung entsteht zunehmend das Bild eines physisch wie ethnisch vollkommen ausgebombten Kosovo: unter dem Schutz einer multinationalen Militärpräsenz (KFOR) kehrten die albanischen Flüchtlinge in ihre Heimat zurück, während die schuldbewußten Serben schleunigst das Land verließen. Das war auch tatsächlich das Bild das sich mir bot, als ich vor mehr als 3 Monaten mit den ersten Hilfskonvois in das Kosovo gelangte. Bei genauerem Hinsehen gestalteten sich die Dinge aber weitaus komplizierter.

Allein in der südwestlichen Region Kosovos um Prizren (wo auch die multi-nationale Brigade Süd - MNBS der KFOR, die neben dem deutschen und niederländischen auch das österreichische Truppenkontingent umfaßt) machen ethnische Minderheiten mehr als 13 % der Gesamtbevölkerung aus (Stand Mitte September; die Daten wurden im Rahmen meiner Tätigkeit bei einer internationalen Hilfsorganisation vor Ort primär erfaßt).

Die noch verbliebenen Serben machen dabei nur mehr einen Teil der Minderheiten aus (etwa 3%). Für sie hat sich die Welt auf den Kopf gestellt: Einst die politisch dominierende Klasse der Provinz leben sie heute in hermetisch abgeriegelten serbischen Enklaven in Orahovac, Velika Hoca und Strpce oder in streng bewachten orthodoxen Klöstern und sind auf den Schutz der KFOR angewiesen (d.h. ihres Todfeindes, der NATO !). Trotzdem müssen sie in ständiger Angst leben: Übergriffe, Entführungen und Morde sind beinahe an der Tagesordnung. Kein Wunder also, daß die Serben in Orahovac auf die Ankunft ihrer orthodoxen "Brüder", dem russischen Truppenkontingent, hoffen. Und in der Logik des Krieges und der Vergeltung auch kein Wunder, daß diese Ankunft seit mehr als einem Monat durch albanische Massenproteste und kilometerlange Straßenblockaden verhindert wird. Im neuen Kosovo gibt es scheinbar keinen Platz mehr für Serben, gleichgültig ob sie an Greueltaten beteiligt waren oder nicht. Die meisten der verbliebenen Serben wollen inzwischen auch schon nach Serbien oder Montenegro auswandern, doch selbst für die Ausreise fehlen die Sicherheitsgarantien.

Noch prekärer ist die Lage der wenigen hundert Roma und Ägypter (letztere sind albanisch-sprachige Zigeuner, die die Bezeichnung (und damit ihre Herkunft) "gypsy" von "Egypt" herleiten). Wenn sie nicht selbst Opfer von Gewalt und Vertreibung der serbischen Angriffe waren, werden sie heute von der albanischen Bevölkerung als Kollaborateure gebrandmarkt und dadurch Ziele neuer Aggressionen (was übrigens schon in den Flüchtlingslagern in Albanien und Mazedonien begann).

Ebenso von Mißtrauen und Abneigung geprägt ist das Verhältnis der "befreiten" Kosovo-Albaner zur Volksgruppe der Goraner (etwa 3,3 %), slawisch-sprachigen Moslems, die in den höher gelegenen Bergregionen im Süden des Kosovo leben. Da es Politik des Milosevic-Regimes war, sich die Zusammenarbeit von nicht-albanischen kosovarischen Volksgruppen mit gewissen Begünstigungen zu erkaufen, flossen beträchtliche staatliche Förderungen für Straßen, Elektrizität und Arbeitsplätze in dieses Gebiet. Zuletzt blieben goranische Siedlungen von den Verwüstungen der serbischen Offensiven im Frühjahr beinahe vollkommen verschont, was zur ihrer Verachtung durch die leidgeprüften Kosovo-Albaner beiträgt.

Etwas besser ist die Situation der Turbesh (etwa 3,9 %), einer Minderheit von serbisch-sprachigen Moslems, deren verstreute Dörfer sich in der Region rund um Prizren befinden. Obwohl auch sie keine Ziele serbischer Angriffe waren und ihre (oft entlegenen) Siedlungen daher auch weitgehend intakt geblieben sind, finden sie heute größere Akzeptanz unter der albanischen Mehrheitsbevölkerung, nicht zuletzt weil viele Turbesh auch albanisch sprechen können. Konfliktpotential gibt es natürlich auch hier, vor allem wo einzelne Individuen der Kollaboration bezichtigt werden und dem Zorn der Betroffenen ausgesetzt sind.

Schließlich lebt in und um Prizren noch eine größere Anzahl von türkisch-stämmigen Familien (3-5 %), die weder in Konflikt mit der serbischen Staatsmacht lag, noch dadurch Probleme mit der albanisch-sprachigen Bevölkerung bekam. Die meisten sprechen gut albanisch und in der regionalen Hauptstadt Prizren spricht sogar jeder zweite Albaner etwas türkisch.

Dieser kurze Streifzug durch die (noch?) multi-ethnische Landschaft des (südlichen) Kosovo zeigt, daß das Kosovo nun keineswegs rein ethnisch-albanisch geworden ist. Doch der Geist des friedlichen Zusammenlebens verschiedener Volksgruppen wird täglich mehr zerstört durch die grausam entfachten Feuer des Hasses und der Rache. Anhaltende Übergriffe auf ethnische Serben und Roma, Morde, ja sogar Massaker im Stile serbischer paramilitärischer Truppen, haben die Angst unter den verbliebenen Serben, vor allem jenen, die, weil reinen Gewissens, hofften auf das Verständnis der geschundenen Mehrheitsbevölkerung zählen zu können, soweit gesteigert, daß der Massenexodus beinahe abgeschlossen ist. Die wenigen verbliebenen Serben leben in winzigen Enklaven, die, von der KFOR abgeriegelt und von internationalen NGOs am Leben erhalten, keine Chance auf wirtschaftliche Selbsterhaltung haben. Wenn sich ihre Situation nicht entscheidend verbessert werden auch sie bald ihre Koffer packen und unter dem Schutz eines verzweifelten UNHCR und einer überforderten KFOR in ein am Boden liegendes Serbien auswandern.

Der dümmliche Haß der Brandstifter und die passive Zustimmung der Mehrheitsbevölkerung wird sicherstellen, daß sie auch keinen Grund mehr haben jemals zurückzukehren.

Doch kam das alles unerwartet? Fast 3 Monate lang bombardierte die NATO Serbien (und ihr Bauernopfer Montenegro), wobei sie ihr (völkerrechtlich bedenkliches) Vorgehen mit der Notwendigkeit gegen die Vertreibungen, Massaker und Vergehen gegen die Menschlichkeit rechtfertigte. Und während all dieser Zeit verschwendete niemand einen Gedanken daran, daß sich der hier entfachte Haß schließlich in das Gegenteil umkehren würde? Das ist unglaubwürdig. Hätte man die Lippenbekenntnisse zu einem multi-ethnischen Kosovo (einschließlich Serben) ernst genommen, wäre genug Zeit gewesen den Einsatz einer starken internationalen Polizeipräsenz vorzubereiten, oder zumindest die OSZE Verifikatoren für eine schnelle Rückkehr in das Kosovo auf Abruf bereitzuhalten. Doch was getan wurde, war zu wenig, zu spät. In den ersten 2 1/2 Monaten nach dem Abzug der serbischen Truppen habe ich keinen einzigen (!) nationalen oder internationalen Polizisten gesehen, in einem Gebiet das etwa 400.000 Menschen und noch genügend Potential für ethnische Spannungen umfaßt (siehe oben).

Und all das, obwohl man aus dem mittlerweile vierjährigen Einsatz in Bosnien die klare Lehre gezogen hat, daß es für die dauerhafte Sicherung des Friedens und dem Aufbau einer demokratischen multi-ethnischen Gesellschaft viel mehr als den Einsatz roher militärischer Gewalt braucht.

Dr. Michael Jandl war von Juni bis September 1999 für Catholic Relief Services (CRS) im südlichen Kosovo tätig.



Dieser Artikel erschien unter dem Titel "Es fehlten die Polizisten" (Untertitel: "Multethnisches Kosovo?") in der Österreichischen Wochenzeitschrift "Die Furche" vom 4. November 1999. Die Textfassung ist die Endversion, wie sie an die Herausgeber geschickt wurden (d.h. vor dem Redigieren).

This article has been published in the Austrian Weekly "Die Furche" vom 4. November 1999. The text is the final version as delivered to the publishers, that is before editing for publication.
 


HOME