Michael Jandl, Dezember 2000
Die Erinnerungen rund um die humanitäre Katastrophe, die sich letztes Frühjahr im und um das Kosovo abspielte, wurden plötzlich wieder lebendig. Die Bilder zogen wieder frisch an meinem inneren Auge vorbei, verbunden mit der konzentrierten Anstrengung des Einsatzes und voll von gespannten Emotionen. Jetzt, ein Jahr später, kehrte ich wieder zurück. Doch das was ich jetzt sah, war ein neues Land, ein anderes Kosovo.
Damals, im Frühjahr 1999 drehte sich alles nur um diese serbische Provinz, die uns fast drei Monate – während der Bombardierungen der NATO und der Offensiven der serbischen Streitkräfte - lang verschlossen blieb. Während dieser Zeit hatten die meisten von uns – die Kosovo selbst noch nie vorher gesehen hatten – nur das erlebt, was dieses Land an menschlicher Tragödie freigab: Massen von kosovo-albanischen Flüchtlingen, erschöpft, verängstigt und verstört. Und doch froh mit dem Leben davon gekommen zu sein. Sie strömten nach Albanien und Mazedonien, wurden in hastig errichtete Flüchtlingslager gesteckt und erzählten horrende Geschichten über ihre erlittene Vertreibung. Und sie wollten zurück. In ihre Häuser, in ihr Land.
Und dann, plötzlich, war es soweit. Ich werde diesen Tag wohl nie mehr im Leben vergessen. Es war Mitte Juni und wir fuhren im zweiten Konvoi nach dem Einmarsch der westlichen Truppen in ein zerstörtes Land, das noch aus allen Wunden seiner Vergewaltigung offen blutete. Im Schritttempo ging es voran, vorbei an brach liegenden Feldern, zerstörten Dörfern und brennenden Häusern. So früh wir auch kamen, wir waren bei weitem nicht die ersten: Wir fuhren vorbei an kilometerlangen Kolonnen von schäbigen Autos, alten Traktoren und Pferdefuhrwerken, vollbeladen mit aufgeregten, erwartungsvollen Menschen, die die erste Gelegenheit genutzt hatten zurück in ihr befreites Land zu kehren. Und dann, fast unmerklich im Vorbeifahren, änderte sich der Anblick dieser Völkerwanderung auf der Straße. Die Autos waren jetzt schwerer beladen, sie waren vollgestopft mit allem erdenklichen Hausrat, Kühlschränken, Fahrrädern, sogar Fenstern und Türen. Ich hörte Menschen in der Kolonne einander laut zurufen, nervös, gereizt, ängstlich und – auf serbisch. Jetzt erst verstand ich die Veränderung des Menschenzuges: Während die einen - albanischen Flüchtlinge – aus ihrem Exil im Süden zurückkehrten, ihre paar Sachen hastig auf ihre Wagen gepackt hatten, verließen die anderen – serbischen Flüchtlinge – verbittert ihre Heimat auf immer. Ihre Häuser, Ihr Land.
Die folgenden Monate drehte sich alles darum Soforthilfe zu leisten, Hilfsgüter bis in die entlegensten Dörfer zu bringen, dorthin wo sie am meisten gebraucht wurden. Hunderte Tonnen von Nahrungsmittel wurden herangekarrt und über eilig eingerichtete Notkommittes an die ausgelaugte Bevölkerung verteilt. Es mangelte an allem, Nahrung, Medikamente, Hygieneartikel, Decken, Zelte... Zelte: in vielen Gebieten war die Zerstörung so groß, dass die Menschen vor ihrem niedergebrannten Haus in großen Zelten wohnten, während sie mühsam darangingen, einen oder zwei Räume als Behausung winterfest zu machen.
All das ging mit einer erstaunlichen, fast wilden Entschlossenheit vor sich. Tatsächlich ging die Flüchtlingsrückkehr so rasch vonstatten, dass alle Pläne der internationalen Hilfsorganisationen für eine rasche und geordnete Repatriierung der vertriebenen Bevölkerung von den Tatsachen überholt wurden. Die UNO eröffnete ihr “organisiertes Rückführungsprogramm” Anfang Juli – zu diesem Zeitpunkt war der Großteil der Flüchtlinge aus Albanien und Mazedonien bereits zurück im Kosovo. Tatsächlich hatten mir alle Kosovo Albaner in den Flüchtlingslagern in Mazedonien, noch während die Vertreibungen andauerten, versichert, dass sie “so schnell wie nur möglich” in ihr Land zurückkehren würden, wenn sie nur vor weiteren serbischen Übergriffen sicher wären. Nur hatte es damals fast niemand geglaubt.
Doch die Entschlossenheit der Rückkehrer, ihr “befreites Land” wieder aufzubauen, fast noch mehr als die Entschlossenheit derjenigen, die während der Eskalation der Gewalt in den Wäldern oder in Häusern versteckt ausgeharrt hatten, zeigte auch sehr bald ihre Kehrseite: Viele Albaner im Kosovo sahen jetzt keinen legitimen Platz mehr in ihrem “neuen Kosova” für die serbische Minderheit, und die meisten sahen nur anteilslos zu, während extremistische Kräfte Anschläge auf die verbliebenen Serben ausführten und ein serbisches Haus nach dem anderen niederbrannten. Die verbliebenen Serben sahen sich plötzlich - in wenigen Enklaven zusammengepfercht und rund um die Uhr von der KFOR beschützt – einer überwältigenden, feindseligen Mehrheit gegenübergestellt. Vielen anderen nicht-albanischen Minderheiten, die der Kollaboration mit den serbischen Machthabern bezichtigt wurden, ging es damals nicht besser. Die neuen Machthaber im Kosovo, direkt aus den Reihen der kosovo-albanischen Befreiungsarmee rekrutiert, wollten es nicht anders. Die Sprache der Moderaten, die fast ein Jahrzehnt lang einen gewaltfreien Widerstand gegen ein totalitäres Gewaltregime aufrechterhalten hatten, musste sich den neuen Gegebenheiten anpassen.
Als ich Kosovo schließlich im September letzten Jahres verließ, sollte ich es als zerstörtes und polarisiertes Land in Erinnerung behalten.
Die Bilder von jenem Land, das ich noch vor so kurzer Zeit erlebt hatte wurden wieder lebendig, als ich Ende Oktober dieses Jahres anläßlich der Lokalwahlen in das Kosovo zurückkehrte. Wir fuhren wieder die gleiche Route – über Pristina nach Prizren – wie damals, doch das Ausmaß der Veränderungen überwältigte mich. Die Durchgangsstraßen sind vollständig repariert und sogar ausgebaut worden (von der KFOR, wie ich erfuhr). Die Dörfer liegen friedlich da, aus der Ferne sieht es aus als hätte es hier nie einen Krieg gegeben. Bei näherer Betrachtung erkennt man allerdings, dass die meisten Häuser hier repariert oder auch wieder neu aufgebaut wurden. Ringsum gibt es auch letzte Bauaktivitäten vor dem Winter und nur mehr wenige Bauten stehen ausgebrannt und unbenutzt da (Sind ihre Bewohner nur noch nicht zurückgekehrt oder gerade erst geflüchtet? Gehören sie Serben, Roma im Exil oder doch Albanern, die jetzt vielleicht woanders leben?). Die Märkte sind prall gefüllt mit Waren, von denen die meisten hier lange Zeit nur träumten: Äpfel, Tomaten, Melonen, Bananen, Erdäpfel, Eier, Fleisch, Würste. Die Trauben sind ungewöhnlich klein und die Paprika außergewöhnlich groß (Beides sei auf die uraniumhältigen NATO Bomben zurückzuführen, behauptet der Volksmund; die NATO dementiert; die EU hat ein großangelegtes Rehabilitierungsprogramm für die ausgedehnten Weingärten im Südosten des Kosovo gestartet).
Die Straßen sind gefährlich wie eh und je. Zwar gibt es jetzt keine führerscheinlosen 14-jährigen mehr, die in alten Schrottautos unkontrolliert durch die Gegend rasen, doch dafür sind jetzt umso mehr Autos auf den Straßen und bereits in den kleineren Städten gibt es permanente Staus. Die deutsche KFOR, die den südlichen Sektor des Kosovo kontrolliert, ist inzwischen dazu übergegangen den gesamten Verkehr durch die 100.000 Einwohnerstadt Prizren in einem riesigen Kreisverkehr zu führen. Zuwiderhandlungen werden empfindlich bestraft: Fahren ohne Gurt kostet 50 DM, ohne (von der UNO flächendeckend ausgestellte) Nummerntafeln 100 DM, ganz ohne Fühererschein kommt noch teurer. Überhaupt scheint hier viel Geld im Umlauf zu sein, alles in bar und alles in DM. Die Anzahl der internationalen Organisationen und NGOs, die mit bunt bemalten Autos durch die Gegend fahren ist kaum mehr zu überblicken. Die Hotels, Bars und Cafes leben gut davon, die Preise haben stark angezogen. Die Telephone funktionieren wieder und mittlerweile gibt es sogar mehrere Mobilfunknetze. Kosovo vor dem Handy-boom. Wer hätte das gedacht?
Und dann die Wahlen. Die ersten freien Wahlen für Kosovo überhaupt. Ein großer Tag für alle Kosovo Albaner. Obwohl es Lokalwahlen sind, gibt es in den meisten (Groß-)Gemeinden bis zu 20 verschiedene kandidierende Parteien. Moderate und radikale ebenso wie Parteienbündnisse und einige wenige Parteien von Minderheiten (Türkische, Ashkali, Bosnier). Doch der Schein trügt. Großangelegte Wahlwerbung konnten sich nur einige wenige leisten. Wahlplakate und Grafitis gibt es hauptsächlich von 2 Parteien, der moderaten LDK unter Rugova und der radikalen PDK von Thaci. Nicht-albanischsprachige Minderheiten waren oft zu eingeschüchtert um überhaupt Wahlkampf zu betreiben. Doch die Mehrheit der Bevölkerung stört das kaum – geht es doch für die meisten hauptsächlich darum, ein symbolisches Zeichen für die Selbstbestimmung und Unabhängigkeit ihres “befreiten” Kosovo zu setzen.
Am Wahltag war die Aufregung der Bürger, endlich von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen zu können greifbar. Die ersten Wähler kamen bereits lange vor der Öffnung zu den Wahllokalen und viele warteten geduldig stundenlang in der Schlange bevor sie endlich wählen konnten. Die gesamte Wahl wurde von der OSZE organisiert und vom Europarat und anderen internationalen Beobachtern überwacht und wurde als großteils friedlich und demokratisch eingestuft. Selbst das Ergebniss war unerwartet eindeutig: in den meisten Gemeinden hatte die moderate LDK mit absoluter Mehrheit gewonnen.
Der UN Verwalter des Kosovo, Dr. Bernhard Kouchner, nannte die Wahlen noch am Wahlabend einen “Triumph der Demokratie”. Diese medienwirksame Formulierung übertüncht geflissentlich das größte Problem dieser Wahlen: Die Nicht-Beteiligung der Serben am Urnengang. Ohne konkrete Vorstellung, wie denn ihre eigene Zukunft im “neuen Kosovo” aussehen könnte, waren die serbischen Bürger des Kosovo gezwungen, der Wahlmanifestation der albanischen Kosovaren untätig zuzusehen. Wen oder was hätten sie auch wählen können? Die serbischen Führer hatten sich geweigert eigene Parteien aufzustellen und verhinderten schon im Vorfeld die Registrierung der serbischen Kosovaren. Und was hätte ihre Abstimmung auch zeigen können? Dass die meisten ihrer serbischen Mitbürger schon längst aus dem Kosovo geflohen sind und sie nur mehr eine kleine Minderheit repräsentieren?
Doch diese Wahlen kündigten auch noch eine andere, weniger sichtbare, Entwicklung an: Obwohl alle angetretenen Parteien streng ethnisch getrennt waren (albanische Parteien und Minderheitenparteien) konnten die Minderheitenparteien nur verhältnismäßig wenige Stimmen auf sich vereinen. Zu groß war der Druck auf nicht-albanischsprachige Gruppen und Gemeinden, sich von ihrem pro-serbischen Stigma abzuwenden und Loyalität zu einem albanisch dominiertem Kosovo zu zeigen. Viele Angehörige von Minderheiten bekannten sich sogar ostentativ zur siegreichen LDK unter Rugova – wohl in der Hoffnung, dass sie unter moderateren Politikern, wenn schon ungeliebt und angefeindet, zumindest im Lande geduldet würden.
Denn der Druck auf die nicht-albanischen Minderheiten, sich rasch und vollständig zu assimilieren, ist groß. In einem gemischtsprachigem Dorf im Süden des Kosovo (Albaner und Turbesh) wurden fast 90 % der serbisch-sprachigen Schüler (oder bosnisch-sprachigen, wie man nun betont) von ihren Eltern in diesem Schuljahr für den albanisch-sprachigen Unterricht angemeldet, obwohl sie auch das Recht auf Unterricht in ihrer eigenen Sprache hätten.
In den letzten Tagen vor den Wahlen gab es noch eine hitzige Debatte, die nichts mit den Präferenzen für die eine oder andere Partei zu tun hatte, aber alles mit der Symbolik dieser Wahlen für die Kosovo-Albaner: Es ging um die Frage ob die albanische Flagge – als Ausdruck der neugewonnenen Freiheit und des ethnischen Selbstbewußtseins – in und um die Wahllokale (meist Schulen) angebracht werden dürfe. Ursprünglich wollte die UNMIK-Verwaltung das zwar verhindern, um weitere Einschüchterungen von Minderheiten beim Urnengang zu vermeiden, doch angesichts der aufgebrachten Entschlossenheit der albanischen Bevölkerung schloß man einen Kompromiss in letzter Minute: Im Wahllokal keine Flaggen, doch draußen dürfen sie über den Eingangstüren prangen.
Die Optik für die internationale Verwaltung des Kosovo hätte schlechter nicht sein können: Um in das “neue Haus Kosova” zu gelangen, mussten Minderheiten unter der wehenden albanischen Flagge zu den Urnen gehen. Viele verstanden darunter, dass nunmehr von ihnen erwartet wird, dass sie auch gleich einen Gutteil ihrer kulturellen Identität an der Türe abzugeben hätten. Wenn die internationale Gemeinschaft nicht sehr bald auf einen weitaus aktiveren Ansatz zur Erhaltung eines – nur noch schwach existierenden – multiethnischen Kosovo übergeht (inklusive und vor allem mit dem Ziel der Rückkehr der serbischen Flüchtlinge), dann stellt sie damit das gesamte Projekt einer gerechten Friedensordnung in der Region Südosteuropa in Frage.
Dr. Michael Jandl arbeitet am Institut für den Donauraum und Mitteleuropa.
Photos (von Michael Jandl)
1. Das schwer zerstörte Marktviertel von Djakovica/Gjakove im Juni
1999
2. Eingang zu einem Wahllokal (eine Volksschule) mit albanischer Flagge
im Oktober 2000
This article has been published in the Austrian Monthly
"Wiener Journal". It has been written shorty after a short mission to Kosovo
as election monitor for the municipal elections in October 2000.