Michael Jandl, 19.11.2001
Hamida Djukatin ist wütend. Sie kippt einen Eimer schmutziges Wasser auf die schlammige Straße vor ihrer Behausung und schimpft auf die Fremden, die hierher kommen, sie in ihrem Elend begaffen, einige Photos machen, Hilfe versprechen und wieder spurlos verschwinden. "Wie die Schweine leben wir hier, wie die Schweine und ihr.." Es bricht aus ihr heraus, ihre Stimme überschlägt sich während sie hastig ihre Kinder einsammelt und in die schäbige Hütte aus Karton und Wellblech treibt. Sie weiß nicht wo ihr Mann ist und wie sie ihre 5 Kinder ernähren sollte. Damit ist sie nicht alleine in dieser typischen Zigeunersiedlung am Rande der Müllhalde. Die Roma nennen die Siedlung Batnjik, sie liegt etwa 10km westlich von Raska, einer kleinen Stadt in Südserbien in unmittelbarer Nähe zu Novi Pazar im Westen und dem Kosovo im Süden.
Seitdem Hamida und die anderen Roma in Batnjik im Juni 1999 aus dem Kosovo geflohen sind fristen sie ein unwürdiges Leben am Straßenrand. Etwa 150 Roma aus verschiedenen Orten im Kosovo haben sich hier auf der Müllhalde eingenistet, denn woanders werden sie nicht geduldet. Im Kosovo lebten sie in ihren eigenen Häusern und kamen ganz gut zurecht. Hier leben sie im Elend: Ihre Kinder haben keine Schuhe, keine warme Kleidung für den Winter und gehen nicht zur Schule. Es gibt keine Heizung, keinen Strom, kein Fließwasser. Sie leben vom Alteisenhandel und vom Recycling von Karton. Ein paar Dinar hier, ein paar Dinar dort. Zu wenig zum Leben, zu viel zum Sterben. In der Nacht ist es gefährlich, da kommen die Ratten. Sie vegetieren mitten in Europa. Hamida Djukatin hat Recht: Es ist eine Schande und ich schäme mich. Doch weg schauen ist auch keine Lösung.
Die Roma sind wie immer am untersten Ende der Gesellschaft. Und doch sind sie nur ein Teil des Problems, die sichtbarste Form der Armut in Serbien. Am Ende des NATO Luftkrieges gegen Jugoslawien wurde ein Flüchtlingsproblem gelöst - durch die Rückkehr der Kosovo-Albaner in ihre Heimat - doch ein neues entstand: Etwa 230.000 Kosovo-Serben, Roma und andere Minderheiten leben heute in Serbien und Montenegro als "interne Vertriebene". Die meisten davon bei privaten Gastfamilien, Verwandten, Freunden und Bekannten, viele aber auch unter schrecklichen Bedingungen in Flüchtlingszentren oder wie die Roma in Zelten und Hütten. Arbeit hat kaum jemand, die staatliche Unterstützung reicht gerade zum Überleben. Private Hilfsorganisationen bemühen sich nach Kräften, doch die verfügbaren Hilfsmittel trocknen schnell aus: es gibt neue Prioritäten.
Und über all dem schwebt die Frage der Rückkehr in den Kosovo: Hier keine Zukunft - dort ihre Heimat, ihre Häuser, ihre Geschichte. Und eine überwältigende albanische Mehrheit, die eben diese Rückkehr vehement ablehnt und sich bequem hinter einigen wenigen Extremisten versteckt, die nicht davor zurückschrecken dafür auch zum morden. Viele verlassene serbische Häuser gingen in Flamen auf um eine Rückkehr ihrer Bewohner zu verhindern.
Die Frage der Rückkehr ist für viele Serben untrennbar mit der Frage des endgültigen Status des Kosovo verbunden. Die internationale Gemeinschaft bleibt in dieser Frage absichtlich vage. Die betreffende UNO Resolution 1244 spricht vom Aufbau von "provisorischen Institutionen der Selbstverwaltung". Am 17. November 2001 fanden die ersten Wahlen für die demokratische Besetzung dieser Verwaltung statt. Die Regierung in Serbien wartete bis zur letzten Minute mit ihrer Zustimmung zur Teilnahme der Kosovo-Serben. Das OK aus Belgrad kam erst nach intensiver Überzeugungsarbeit der OSZE und UNO samt Zusicherungen was die Frage des Verbleibens des Kosovo in der Bundesrepublik Jugoslawien betrifft. Für viele Serben gab dann erst die demonstrative Zustimmung von Patriarch Pavle und Bischof Artemije den Ausschlag.
Der eigentliche Grund für die doch beachtliche Wahlbeteiligung der Serben an den Wahlen im Kosovo war aber kaum der Glauben an die demokratische Mitbestimmung in einem albanisch dominierten Kosovo, sondern die Angst durch eine Nichtregistrierung und Nichtteilnahme ihre Eigentumstitel im Kosovo völlig aufzugeben. Vielleicht, so denken viele, könne man Grund und Boden, wenn schon nicht mehr Haus und Hof, später einmal verkaufen oder eintauschen. Daneben besteht auch die Hoffnung auf eine "territoriale" Lösung des Kosovo Problems: Eine Kantonisierung in ethnisch reine Gebiete könne man sich vorstellen, denn zusammen mit den Albanern könne man nicht mehr leben. Wohl auch, weil das wahre Ausmaß der Gräueltaten gegen Albaner im Kosovokrieg erst jetzt langsam ins Bewusstsein sinkt, und damit das Ausmaß des Hasses gegen das eigene Volk greifbarer wird.
Etwa 60.000 Kosovo-Vertriebene gingen trotzdem zu den Wahlurnen. In einer Mischung aus Hoffnung, Trotz und Stolz. Zusammen mit den 20.000 Serben, die noch in den serbischen Enklaven im Kosovo leben und ebenfalls für die „Koalition für die Rückkehr“ stimmten, sowie den 20 zusätzlichen für Minderheiten reservierten Sitzen, ergibt das etwa ein Drittel der Sitze in der neu gewählten "Kosovo Versammlung" für Nicht-Albaner, vielleicht gerade genug um den Anfang einer multi-ethnischen Demokratie im Kosovo zu machen, so die Rechnung der internationalen UN Verwaltung, UNMIK.
Die Roma in Batnjik gingen nicht zu den Wahlen. Sie haben schlechte Erfahrungen mit offiziellen Stellen und vermeiden tunlichst jede offizielle Registrierung, wie sie für die Wahlen nötig war. Zurück wollen auch sie irgendwann. Wer dann Kosovo regieren sollte ist ihnen egal, nur Sicherheit sollte es bieten. Nur sie wird keiner fragen.
Dr. Michael Jandl ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut
für den Donauraum und Mitteleuropa (IDM) in Wien.