TEXTE
Rede
von Elisabeth Faller, Mai 2003
Meine sehr verehrten Damen und Herren !
Wir
stehen hier vor einem Zeichen der Erinnerung. Der Erinnerung, die
in ihrer Form, in ihrem Leid, in ihrer zum Teil beinahe unbegreiflichen
Grausamkeit schwer nachvollzogen werden kann. Wenn wir an diesem
Mahnmal, an der Seite dieser Namen ein Videoband ablaufen lassen
würden mit allen Geschichten, die hinter den Namen stehen,
dann würde uns übel werden, wahrscheinlich. Ich bin nicht
sicher, ob wir diese geballten Bilder von Leid und Entsetzen überhaupt
aushalten würden. Es war teilweise für jeden Einzelnen
in seiner eigenen Geschichte entsetzlich, sodaß diese Geschichten
teilweise nicht weitererzählt wurden, wie Geschichten privater
Natur sonst in den Familien weitergegeben werden.
Im Krieg gefallen.
Das klingt neutral, beinahe steril. Doch was es bedeutete, nicht
gefallen zu sein, überlebt zu haben, es sind Viele unter uns,
die davon erzählen könnten, die vielleicht im einen oder
anderen Moment ein Bild vor Augen haben, aus dieser Vergangenheit,
ganz plötzlich, mitten in einem Spaziergang, beim Blick auf
irgendetwas, das die Erinnerung auslöst. Wenn die den Krieg
überlebt habenden unter uns es wagen, dieses Bild, diese Bilder
der Vergangenheit zu sehen.
Oder in einer ruhigen Stunde, an einem Abend, wenn eine vertraute
Person zuhört, aufmerksam zuhört, stundenlang ist man
schon beisammengesessen und plötzlich beginnt man zu erzählen,
beginnt der Rückblick in eine Zeit, in der der Erzähler
jung und als junger Mensch Zeuge schrecklicher Bilder der Zerstörung,
der wahllosen Vernichtung von Menschenleben war, unbegreiflich heute,
dass dies im eigenen Leben einmal wahr gewesen sein soll. Und es
steigen die Tränen auf, plötzlich, bei der Rückkehr
in diese alten Bilder, die jedoch, wenn sie in einen jungen Menschen
gelegt worden sind, starke Bilder sind, zu stark für Manche.
Wieviele Menschen gibt es, gab es, die jahre- und jahrzehntelang
mit ihren Kriegserlebnissen im Inneren ihren Nachkriegsalltag lebten,
ihre Familien gründeten, ihrer täglichen Arbeit nachgingen
und viel später erst, bei Manchen in der Pension, in Zeiten
der Ruhe beklemmten plötzlich die alten Bilder ! Wieviele sind
es, waren es, die nie davon gesprochen haben, weder ihren Frauen
, geschweige denn ihren Kindern gegenüber, um Niemanden zu
belasten !
Erinnerung.
Wir denken an die Opfer des Nationalsozialismus, die gestorben
sind, deren Namen auf diesem Denkmal stehen. Ich denke auch an die
lebenden Opfer unter uns, an die, die als kleine Kinder die Kriegszeit
erlebt haben, ohne ihre Väter . Wie meine Mutter. Die ihren
Vater slowenischer Abstammung im Alter von sechs Jahren verloren
hat mit ihren vier Geschwistern. Deren Mutter in ärgster Armut
die Kinder von Haus zu Haus schicken hatte müssen, um das Notwendigste
zum Überleben zu besorgen. Ich werde einen Satz meiner Mutter
nie vergessen, den sie mir , als ich selbst noch ein Kind war, erzählte.
Dieser Satz hat sich in mich eingegraben als ein Symbol des Krieges
für die Daheimgebliebenen.
Die Brotlade war leer, erzählte mir meine Mutter. Sie hatten
so einen Küchentisch, mit einer Lade zum Herausziehen, wo das
Brot aufbewahrt wurde. Es war nicht einmal ein Krümel in der
Brotlade, erzählte meine Mutter. Und die fünf Kinder waren
dagestanden und hatten geweint. Vor der leeren Brotlade. Dieses
Bild werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Es hat sich mir
als Bild eingeprägt als Zeichen für die daheimgebliebenen
Frauen und Kinder im Krieg.
Erinnerung.
Über den Tod meines Großvaters habe ich als Kind den
sterilen Satz „im Krieg gefallen“ gehört. Ich hatte
nie weiter nachgefragt. Es genügten mir die drei Worte, sie
mussten mir genügen. Ich konnte mir nichts darunter vorstellen,
ich stellte mir ein schnelles Verschwinden vor, eine kurze Begründung
für einen Tod, der mit mir nicht unmittelbar zusammenhing.
Als Kind hatte ich ständig Alpträume. Träume von
Verfolgungen, von Männern mit Waffen wurde ich verfolgt, immer
wieder. Und immer wieder wachte ich auf, schweißgebadet, knapp
vor dem Erschossenwerden. Und ich auf der Flucht vor den Verfolgern.
Ich konnte mir diese Träume nicht erklären, ich hatte
bis vor einigen Jahren in unregelmäßigen Zeitabständen.
Dabei sehe ich nie spannende Filme an, lese keine Krimis.
Vor einigen Jahren, als meine Großmutter starb, die Mutter
meiner Mutter, erzählten mir meine Verwandten, dass mein Großvater
in Dachau gestorben war, am 27. April 1945. Und sie erzählten
mir, was vorher passiert war. Bevor mein Großvater nach Dachau
kam. Es ginge zu weit, wenn ich die ganze Geschichte hier nacherzählen
würde. Soviel jedoch, dass mein Großvater ein paar Mal
auf der Flucht gewesen war. Verfolgt wurde. Knapp vor dem Erschießen.
In Todesängsten. Wie in meinen Träumen. Meine Familie
stammt zum größten Teil aus dem slowenischsprechenden
Teil Kärntens und aus Slowenien.
Ich hatte das Leben meines Großvaters, seine schlimmsten
Stunden, geträumt. Es war eine Spur durch die Generationen
gegangen, eine unsichtbare, unausgesprochene Fährte hatte sich
gelegt, von der ich erst beim Begräbnis der Großmutter
erfuhr.
Und ich erfuhr, dass mein Großvater misshandelt worden war.
Zuerst im Lager Annabichl, dann in Dachau. Und ich erfuhr, dass
auf seinen Händen keine Haut mehr gewesen war, als er starb.
Einen Tag vor der Befreiung des Lagers Dachau durch die Amerikaner.
Ich stellte mir die Hände meines Großvaters vor. Und
ich sprach mit ihm in die unsichtbare Welt hinein, dass es mir leid
täte, dass er so gestorben wäre. Mit sechsunddreißig
Jahren. Und in meinen Gedanken küsste ich diese Hände.
Und ich schrieb einen Text über sie.
Nach diesen Erzählungen, nach meinem eigenen Trauern über
dieses elende Verrecken meines Großvaters hatte ich nie mehr
die Alpträume von vorher.
Erinnern.
Wir tragen alle Möglichkeiten in uns. Von größter
Güte bis zur größten Grausamkeit. Wir alle. Gestern
wie heute. Wir täuschen uns in uns selbst, wenn wir meinen,
wir wären nur zum Guten fähig, wir wären zivilisiert.
So etwas könnte nicht mehr passieren, meinen manche von uns.
Wir tragen starke Schatten in uns. Es kann jederzeit wieder passieren.
Eine Möglichkeit, die Vergangenheit nicht zu wiederholen, ist,
uns an sie zu erinnern. Mit allen ihren Grausamkeiten und Schönheiten.
Mit allem, woran wir persönlich beteiligt waren oder auch nicht.
Erinnern bewahrt. Doch es fordert uns auch. Es fordert von uns
ein Mittragen von Geschehnissen, die mit uns persönlich nichts
oder nur mehr wenig zu tun haben. Und es sind keine angenehmen Erinnerungen,
wenn wir an die Opfer des Nationalsozialismus denken. Vielleicht
das Zusammenhalten in der Nachbarschaft, im Ort, unter Kriegskameraden.
Eine Solidarität, die wir heute vielfach vermissen.
Ich wünsche uns den Mut, manchmal zurückzublicken, in
Respekt und Würdigung Derjenigen, die Opfer geworden sind.
Wie die Menschen aus dem Bezirk Villach, die hier auf dieser Tafel
stehen. Und ich wünsche uns, dass wir Nachkommenden die Spuren
in uns erkennen und achten, die diese Zeit hinterlassen hat. Auf
dass wir mit Achtsamkeit zurückdenken und auch voraus. Ich
wünsche uns die Aufmerksamkeit und Zivilcourage in unserem
gegenwärtigen Leben, die allen Anfängen, die in eine solche
Richtung führen könnten, wie es die Zeit des Nationalsozialismus
war, mutig entgegentritt. Und die Zeichen sind nur erkennbar, wenn
wir uns damit konfrontieren lassen, was vor uns war.
Ich will Ihnen den Text vorlesen, den ich für meinen Großvater
geschrieben habe. In Erinnerung an seine Hände. Meine Art der
Rückschau und Mittrauer.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit !
Rede gehalten bei der Wiedereröffnung des Denkmals
der Namen, am 15. Mai 2003
Die Hände meines Großvaters
verstorben in Dachau, am 27. April 1945
Es waren Hände gewesen. Vor langer Zeit. Groß und klobig.
Zum Holzhacken. Mit Pech daran und Schwielen. Nach der Arbeit mit
Kernseife gewaschen. Mit der Bürste saubergerieben. Danach
die Kinder im Arm. Fünf an der Zahl. Wie alt bin ich? Fragt
das Jüngste. Die Mutter sehnt sich nach der rauhen Berührung
der Hände. Aus der sie lebt. Doch nicht mehr lange. Denn sie
werden ihr geraubt. Die Hände. Die Kinder warten aufgewacht.
Deren Betten die Soldaten durcheinandergewühlt hatten. Auf
der Suche nach Waffen.Doch da waren nur die Kinder gewesen. In
den Betten. Ein letzter Blick des Vaters auf seine Kinder. Bevor
sie ihn abführten. Die Hände. Zu jung zum Sterben. Jedoch
nicht zur Qual. Später Knochen mit anderen Knochen unentwirrbar
vermischt. In die Grube geworfen. Damals. Wir sprechen nicht mehr
darüber. Es wäre keine Haut mehr an den Händen gewesen.
Vor dem Sterben. Nackt wären sie gewesen. Die Hände.
So ohne Haut. Und dass es so besser gewesen wäre. In diesem
Fall. Wie es war. Auch wenn Dachau zwei Tage später nicht
befreit worden wäre.
Gmünd, 15.5.2003
Elisabeth Faller, Gen.Sekretärin d.Ktn. Schriftstellerverbandes
Gries 17, A-9853 Gmünd/Ktn.
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