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Judenpogrom November 1938 - Kärnten
vor 60 Jahren
von Superintendent Joachim Rathke
Ich habe gestern abend in einer Gedenkveranstaltung im Jüdischen
Zentrum in der Tempelgasse im 2. Bezirk in Wien, gehört, dass
in Österreich 1938 42 Synagogen abgebrannt sind, dass 50 Juden
Selbstmord begangen haben und dass 8000 Juden aus Österreich
in das KZ-Dachau deportiert wurden. Ich habe weiters gehört,
dass holländische Christen und Juden die einzigen waren, die
jüdische Flüchtlinge aus Deutschland aufgenommen hätten,
wenn der Staat es ihnen erlaubt hätte und dass kein Staat
eine Freude daran gehabt hat, die Juden aufzunehmen.
Ich habe gehört, dass kaum ein Mensch etwas gegen das Verwüsten,
das öffentliche Schänden, das Bloßstellen von
Juden, den Raub ihrer Güter, Inhaftierung und Verfolgung
unternommen hat. Ich weiß, dass es einer in Villach doch
getan hat: Superintendent Heinzelmann ist am 10. November, bekleidet
wie zu einem Trauergottesdienst, in die Häuser und Wohnungen
der Villacher Juden gegangen, um sich zu entschuldigen, um ihnen
seine Nähe zu zeigen. Er, der
immer ein Kulturprotestant war und ein "strammer Deutscher"
für den Deutschtum und Protestantismus zusammen gehörten,
hat am Sonntag darauf auf der Kanzel gesagt: "Heute schäme
ich mich zum ersten mal in meinem Leben, ein Deutscher zu sein."
Er, der selber an Juden nicht direkt schuldig wurde, hat sich für
schuldig erklärt und Scham empfunden - darüber, dass
Volksgenossen einer solchen Gemeinheit fähig waren.
Und dabei
war das nur der Auftakt für ein groß angelegtes,
radikales, vom Staat befohlenes Morden. Ich verstehe Pinchas Lapide,
wenn er sagt: "Auschwitz war Karfreitag- Erez Israel ist
Ostern!"
So endete auch die Feier mit den Worten von Ludwig Börres:
"Ich habe sie freilich nicht gesehen, der Freiheit stolze
Blüte,
ich sah die Freiheit untergehen mit Kummer im Gemüte. Und
doch will meines Herzens Dank die ferne Zukunft grüßen.
Ich kann vom Sonnenuntergang auf Sonnenaufgang schließen."
Ich habe diese persönlichen Worte der Traurigkeit nur vorangestellt
- erst muss die Beichte kommen. Ich habe auch nie bewusst einem
Juden Böses getan, und doch weiß ich mich schuldig.
Nicht in einer - wie man so sagt - Kollektivschuld aller deutschsprachigen
Menschen, sondern in etwas, was hinter den Dingen geschieht.
Ich habe nicht gelernt, die heilige Schrift nach jüdischer
Weise auszulegen, ich habe sie immer christlich ausgelegt und
damit nach jüdischem Verständnis sie eigentlich geraubt.
Das heißt,
ich habe den Juden in seinem Verstehen Gottes nie so gleichwertig
gesehen, wie ich meine, Gott zu verstehen. Ich habe zwar immer
gewusst und geglaubt, dass der Gott Israels und der Vater Jesu
Christi ein und derselbe ist und ich wage es - je länger
je mehr - sogar zu glauben, dass er derselbe ist, den die Moslems
Allah nennen. Aber ich habe daraus keine Konseqenzen gezogen!
Der Kopf ist so langsam im Denken und er denkt überhaupt
nicht von selbst, er braucht Erfahrung - und ich kenne kaum Juden!
Da geht es mir wie den meisten Kärntnern. Dass der Antisemitismus
bei uns trotzdem da ist, ist ein eigentümliches Phänomen.
Ich glaube, er kommt aus einer langen, langen Isolation. Wir
haben immer unseren christlichen Glauben weitergegeben und -
so ganz nebenbei - haben wir auch einmal gesagt, dass Jesus ein
Jude war. Aber wir haben nie das Neue Testament jüdisch
augefasst. Ich war beleidigt, als Pinchas Lapide in seinem Buch „Er
predigte in Ihren Synagogen"
Jesus als Juden interpretierte. Dass Jesus nur ein Prophet und
Weisheitslehrer sei, ist mir zuwenig. Er ist der Heiland der Welt.
Dieser alte Zwist um Jesu: ist er der Messias oder nicht?, hat
uns voneinander getrennt. Dabei wurde dieser Streit unter Juden
ausgetragen: Lukas allein war unter den Verfassern des Neuen Testamentes
ein Heidenchrist. Aber der Bruch mit dem Judentum ließ die
Kirche eine andere philosophische und weltanschauliche Basis betreten,
weil wir die jüdische verlassen haben. Wir haben angefangen
die Welt von einer griechischen und danach von einer römischen
und dann von einer germanischen Basis her zu verstehen und nicht
aus der gemeinsamen jüdischen. Und das ist - bei aller Unschuld
- gelernte und gelehrte Schuld, weil es ein Ausblenden des Bewusstseins
ist, aus dem der Jude verbannt wurde. Und der Jude wurde für
mich jemand, den man lieben soll, aber nicht, dem man glauben
soll. Der Glaube macht die Identität, die sich in der Liebe
auslebt. Da liegt die Schuld! So habe ich immer gelernt und gelehrt.
Es geht mir eigentlich wie dem Propheten Jesaja: Er sah Gott im
Tempel mit der Klarheit des Bewusstseins. Er schrie auf: Ich komme
um. Ich habe unreine Lippen, und ich komme aus dem Volk unreiner
Lippen. Das ist meine Beichte! Diese Schuld muss ich tragen. Aus
dieser Schuld auch derer, die vor mir waren. Zu meiner Zeit kam
es, dass eine bestimmte Generation den christlichen Glauben und
die Bibel aufgab, die sie hätte vor der Bosheit in sich selber
bewahren können. Sie setzte an Gottes statt die Nation und
das Volk und verkehrte das Ebenbild Gottes in dem Herrenvolk,
das sich das Recht herausnehmen durfte, andere als minderwertig
und als Untermenschen zu bezeichnen oder gar nicht als Menschen
und hat sich damit die Begründung gegeben, aus vorgeblicher
Liebe zum eigenen Volk die anderen nicht nur zu hassen, sondern
umzubringen. Unser eingeschränktes
Bewußtsein, die Unfähigkeit der Kirche über ihr
eigenes Verständnis hinaus zu wachsen, hat verursacht, dass
all das passiert ist, was geschah. Nachdem die Juden im Mittelalter
verfolgt worden sind im guten Namen Christi, nachdem Luther in
seinen Altersschriften groben Antisemetismus getrieben hatte,
der übrigens
von den Lutherischen Kirchen nicht anerkannt worden ist, darum
auch vergessen wurde und erst vom Stürmer wieder ausgegraben
wurde, um natürlich die Lutheraner zu fangen, mochten sich
viele evangelische Christen ein antijüdisches Bewußtsein
gestatten. An den Spitzen der Ausschreitungen muß man sich
nicht schuldig wissen, wenn man nicht beteiligt war. Schuldig
weiß ich mich an dem,
dass ich so unendlich langsam lerne die jeweils anderen zu sehen,
zu hören und zu verstehen. Darum will ich jetzt in aller Öffentlichkeit
und deutlich und laut erklären: "Der Gott Israels
und der Gott Jesus Christi ist derselbe Gott."
Ja, was wir
immer als lutherisches Fünklein betrachtet haben,
was wir als Rechtfertigung gelernt haben, dass Gott Menschen annimmt
um ihrer selbst willen und nicht auf ihre Taten schaut, damit
er sie annehmen kann, dass es reine Gnade ist, dass wir überhaupt
leben und dass jeder dieses Lebens froh wird, der dieser Gnade
vertraut, und dass wir das alles von Christus wissen und in
der Heiligen Schrift lesen, dieses Gewaltige, was wir wirklich
als Neuheit in der Reformation in die Welt bringen konnten,
das ist altes jüdisches Erbe.
Nicht umsonst hat Paulus von Abraham geredet, der seinem Gott nachlief,
wie ein Lamm seinem Mutterschaf. Einfach weil Gott ihn gerufen
hat aus lauter Gnade und er wanderte und er ging; und er wanderte
durch den ganzen Nahen Osten und konnte doch keine Heimat finden.
Dass der Hebräer-Brief - nicht umsonst heißt er
so - im Neuen Testament von ihm schreibt, dass Gott ihm ein
Vaterland bereitet hat, eine Stadt, die Gott gebaut hat, auf
die er immer gewartet hat, denn nirgendwo konnte er Frieden
finden. Na bitte: das ist doch das Bild des Christen ebenso,
nicht nur des Juden allein. Wir können nie zufrieden sei
mit dem Status quo, wir müssen
immer wieder kämpfen gegen das Unrecht, das in unserer Welt
geschieht und wir müssen uns immer wieder aufraffen gegen
uns selber - und darum meine ich: Juden und Christen, die älteren
und die jüngeren Geschwister in Gottes Volk - geben wir
uns endlich die Hand und gehen wir gleichberechtigt miteinander
- Hand in Hand - auf eine andere Welt zu, auf eine bessere,
auf das Reich Gottes zu. Lernen wir aus den Fehlern, die wir
selber gemacht haben und aus dem Unrecht, das uns geschehen
ist. Wenden wir uns jenen zu, die unter Menschen leiden. Ob
ein Mensch unter Christen oder unter Juden leidet, das ist im
Grunde genommen egal. Schmerz ist
überall gleich schmerzhaft. Hören wir die Stimme der
unrecht Leidenden. Fangen wir an eine neue Welt zu bauen.
Danke fürs Zuhören!
Ansprache gehalten am 10. November 1998 im Rathaus
Villach anläßlich der Gedenkveranstaltung.
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