TEXTE
Pogrom
von
Doron Rabinovici
Pogrom, meine Damen und Herren,
Pogrom. Das war hier. Nicht nur
in Berlin, Frankfurt oder Wien. Nein, die Hetzjagd fand auch in
Villach statt. Auch hier rannten die Opfer um ihr Leben. Auch hier
wurden ihre Wohnungen gestürmt.
Auch hier wußten sie nicht, wie ihnen geschah . Pogrom. Der
Begriff klingt fremd und fern. Das russische Wort spricht uns von
einem Volksaufstand gegen die Juden. Wir denken an Kosaken, an
einen Mob aus früheren Zeiten. Der Begriff gemahnt an feudale
Zustände, und an jenes jiddische Lied: (transkribiert)
„Es brent Brider es brent/Oj unser orem Schtetl nebich
brent/Bejse Windn mit Irgosen/Rajssn brechen un zeblosn/Schtarker
noch di wilde Flamn/Alz arum schon brent“
Aber was damals geschah, übertraf eine Gewaltausschreitung
in einer einzelnen Stadt. Vom Novemberpogrom zu reden, bedeutet,
entsetzt zu sein über das, was in Mitteleuropa, in Deutschland,
im zwanzigsten Jahrhundert noch möglich war, bedeutet sich
keinen Begriff zu machen von dem, was sich schon ankündigte.
Novemberpogrom. Barbarei mündete im Rechtsstaat und der Rechtsstaat
in der Barbarei.
Niemand hatte sich so einen Raubzug und so eine Mordwelle erwartet.
Vom 9. bis zum 13. November 1938, ja, nicht nur in einer Nacht,
wie zuweilen behauptet wird, vom 9. bis zum 13. November wurden
den Juden in Deutschland und Österreich die Mindeststandards
moderner Zivilisation aufgekündigt. Sie waren vogelfrei. Sie
konnten niedergeprügelt, vergewaltigt und ermordet werden.
Ihre Geschäfte wurden zerstört, ihre Wohnungen verwüstet,
ihre Gotteshäuser in Brand gesetzt.
Wer Novemberpogrom sagt, meidet jenes Vokabel, das sich in der
Bevölkerung zunächst festgesetzt hatte. Die Berliner
prägten den Namen Reichskristallnacht. Er wurde von
den Nazis nur allzu gern in den Sprachschatz aufgenommen. Kristallnacht;
das kokettiert mit dem schaurig schönen Widerschein von Feuer
in den auf der Straße liegenden funkelnden Glasscherben.
Das verharmlost die blutige Gewalt, als wäre sie ein Fastnachttreiben
gewesen. Es macht aus dem Morden und Brandschatzen eine Sachbeschädigung
im Zuge eines Volksfestes. Die Ausschreitung wird zur Ausschweifung
verklärt.
Aber auch vom Novemberpogrom zu sprechen, faßt nicht ganz,
was hier, in den Straßen, die wir heute noch begehen, vorfiel,
was Juden widerfuhr, was ihnen teils ihre Nachbarn antaten. Kein
spontaner Volkszorn, wie die nationalsozialistischen Machthaber
glauben machen wollten, kam hier zum Ausbruch. Das war kein Aufruhr,
der die Gemüter einer einzigen Region erregte. Die Verfolgung
erfaßte alle Juden im ganzen Staat. Das gesamte Reich war
Tatort.
Die Aktion wurde von den Parteistellen angeordnet, von SA-Verbänden,
SS-Trupps und HJ-Gruppen durchgeführt, aber vom Mob, von unorganisierten
Teilen der Bevölkerung betrieben. Das Verbrechen geschah im
Namen des deutschen Volkes.
Nicht nur übertraf das Ausmaß der Barbarei alles Bisherige.
Nein, darin lag nicht unbedingt das Besondere an dem Greuel des
Novembers, zumal in Wien bereits im Frühjahr Plünderungen
und Bluttaten an der Tagesordnung gewesen waren. Aber die Hoffnung,
mit der Zeit würde die Hatz gegen die Juden nachlassen, war
nun endgültig gebrochen. Nun war klar, es würde kein
Entrinnen geben. Wer Jude oder Jüdin war, saß in der
Falle. Das ganze Reich war Feindesland, Todeszone geworden.
Der Novemberpogrom diente den fanatischen Antisemiten zur Einstimmung.
Es war der Auftakt zum Massenmord. Der nazistische Alltag beging
einen Festtag. Die Partei zelebrierte das Plündern, Brandschatzen
und Morden am 9. November, dem Jahrestag der Reichsgründung
1918 und des Putschversuches im Jahre 1923. Der Nationalsozialismus
beging das Jubiläum mit einem Verbrechen und das Verbrechen
als Gewaltfeier des Schreckens.
In Deutschland waren die Juden bereits seit 1933 aus dem Staatsvolk
verbannt worden. Mit dem Novemberpogrom setzte aber im so genannten
Altreich eine neue Phase der nazistischen Judenpolitik ein.
In Österreich hingegen waren Jüdinnen und Juden seit
dem Frühjahr Ausschreitungen und Pogromen ausgesetzt. Die
Nationalsozialisten mußten sich ob ihrer Judenpolitik nicht
vor einer breiten Opposition fürchten. Im Gegenteil. Die Bürokratie
konnte auf die Masse von Nutznießern und Mitläufern
zählen, rechnete aber nicht mit diesem Übereifer. Die österreichischen
Juden waren nicht Opfer einer fremden Politik. Die Gewaltexzesse
machten das ganz besondere Ambiente des nazistischen Wien aus.
Die Verfolgung setzte nicht erst nach dem Einmarsch der deutschen
Truppen, sondern schon in der Nacht davor ein. Die heimischen Nationalsozialisten
machten sich sogleich, am Samstag, den 11. März, an die Arbeit.
Ja, bereits am 4. Februar 1938, fünf Wochen vor dem Anschluß,
hatten Jugendliche eine Rauchbombe in den Tempel der Hetzgasse
geworfen.
Unterstützung für die Opfer boten nur
Einzelne, Vereinzelte. Jubel empfing die einmarschierenden deutschen
Truppen am Sonntag, den 12. März 1938, in Österreich.
Nie wieder stieß die Wehrmacht bei Überschreitung nationaler
Grenzen auf solch hartnäckige Begeisterung. In Österreich
erreichte die antijüdische Verfolgung eine neue Stufe.
Schon in der ersten Woche nach dem Einmarsch begeisterte sich
der Mob an den sogenannten Reibpartien, an jenen Veranstaltungen
zur allgemeinen Belustigung, weltweit als Wiener Besonderheit bekannt.
Die Opfer müssen mit scharfer Lauge und Zahnbürsten
ständestaatlichen Kruckenkreuze oder die Schuschnigg-Parolen
von der Straße waschen. Es ist die Vorführung einer
Erniedrigung, denn vorgeführt werden Menschen wie du und ich,
Junge und Alte, Männer und Frauen, die gestern noch glaubten,
in dieser Stadt daheim zu sein. So groß ist die Begeisterung über
dieser Vorführung, daß sie wegen Erfolges verlängert
wird. Dort wo alle Symbole bereits weggewischt sind, werden neue
hingemalt. In den Synagogen brennen die Thorarollen. Juden werden
von der Meute durch die Straßen gezerrt.
Juden waren Freiwild. Es war eine Mordshetz im wahrsten Sinne
des Wortes. Der ungeordnete Terror wurde so heftig, daß er
den Nazis nicht geheuer war. Bereits am 14. März 1938 untersagten
die neuen Machthaber die unkoordinierten Enteignungen und die wilden
Ausschreitungen auf eigene Faust. Der „Völkische Beobachter“ vom
26. April 1938 rief die österreichische Bevölkerung gar
zu Ruhe und Ordnung auf. Zu enthusiastisch schienen die Wiener
Antisemiten den nationalsozialistischen Machthabern.
„Es brent Brider es brent/Oj unser orem Schtetl nebich
brent/S’hobn schojn di Fajerzungn/Dos ganze Schtetl ajngeschlungn/Un
di bejse Windn huschn/S’ganze Schtetl brent
Un ir schtejt un kukt asoj sich/- mit farlejgte Hent/Un ir schtejt
an kukt asoj sich/- unser Schtetl brent.“
Von Mordechai Gebirtig stammt dieses Lied. Er schrieb es in Polen,
als die Gewalt gegen Juden wieder zunahm. Im Jahre 1938. Just im
Jahr des so genannten Anschlusses. Im Jahr jenes Novemberpogroms,
dessen wir hier gedenken.
Die Opfer in Wien suchten nach einem Ausweg. Unzählige versuchten
ein Visum zu ergattern, um zu fliehen. Viele Verfolgte meldeten
ihre Telephone ab. Sie ließen ihre Türglocken abmontieren,
um nicht durch sadistische Belästigungen terrorisiert zu werden.
Mit Bekannten vereinbarten sie Klopfzeichen. Nicht wenige versuchten
sich dem Zugriff durch Untertauchen zu entziehen. Manche weigerten
sich, jede Demütigung widerstandslos über sich ergehen
zu lassen. Am 25. April 1938, es war der letzte Pessachtag und
der Ostermontag, ein traditioneller Pogromtag seit dem Mittelalter,
wurden Hunderte Juden bei der Reichsbrücke unter anderem gezwungen,
einander ins Gesicht zu spucken. Ein junger Mann widersetzte sich
und erklärte, sich eher erschießen zu lassen, als sich
der Pein zu unterwerfen. Wenig später wurde er im Konzentrationslager
ermordet.
Andere konnten ihre Wut nicht nach außen wenden. Sie legten
Hand an sich. Der Autor G.E.R. Gedye wunderte sich damals über:
... die Selbstverständlichkeit, mit der jede jüdische
Familie nunmehr den Selbstmord von Familienmitgliedern als ein
normales und natürliches Ereignis hinnahm. ... Jüdische
Freunde teilten einem den Entschluß, Selbstmord zu verüben,
in dem gleichen Ton mit, in dem sie einem früher erzählt
hatten, daß sie eine kurze Eisenbahnreise unternehmen würden.
Die Machthaber wollten Wien judenrein machen. Aber viele Antisemiten
innerhalb der Behörden und Parteiorgane konnten nicht von
ihren Opfern lassen. Sie zu quälen, wurde ihnen wichtiger
als das Ziel, sie davonzujagen.
Pogrom. In den meisten Großstädten des „Deutschen
Reiches“ brannten die Synagogen im November zum ersten Mal.
In Wien waren schon im Oktober die Fensterscheiben mehrerer Synagogen
eingeschlagen, Thorarollen geschändet, einzelne Bethäuser
zerstört und der große Tempel im 2. Bezirk angezündet
worden.
Auf den Punkt gebracht kann gesagt werden; während im März
1938 der „Anschluß“ Österreichs an das Deutsche
Reich erfolgte, wurde mit dem Novemberpogrom 1938 der Anschluß des „Altreichs“ an
die „ostmärkische Judenpolitik“ vollzogen. Deshalb
lief das Novemberpogrom in Wien brutaler als in vielen anderen
Städten ab. Die Hemmschwelle war bereits überschritten.
Der Mob hatte die Gewalttaten schon eingeübt, nun durfte er
sich aber endlich austoben.
Jüdinnen und Juden wurden verhaftet, in Schulen, Gefängnisse
und in die spanische Hofreitschule neben der Hofburg gebracht,
zu so genanten gymnastischen Übungen gezwungen, ohne ihnen
Nahrung zu geben. Schlafen durften sie nur aufrecht; stehend.
Die Amtsräume der Kultusgemeinde wurden ebenfalls gestürmt.
Die Täter demolierten Ausspeisungen, vermengten Lebensmittel
mit Glas, schütteten die Suppen aus. Neu war, was Jüdinnen,
Frauen in großer Zahl angetan wurde. Sie wurden verhaftet
und mißhandelt. In die Zelle wurden Prostituierte gebracht,
um die jüdischen Frauen zur Begeilung der SA sexuell zu mißbrauchen.
In der Brigittenau zwangen die Täter zweihundert Frauen, in
einem Keller nackt zu tanzen. Eine Jüdin, die sich weigerte,
wurde auf einen Tisch gebunden; die anderen Frauen mußten
ihr ins Gesicht spucken.
In Villach, das weiß ich aus den Publikationen des Vereins
Erinnern, dauerte der Ausbruch vom 10. bis zum 11. November. Der
Hauptplatz, lese ich, war voller Menschen. Auf dem Sockel der Pestsäule
standen Jugendliche und schrieen: „Hoch hänge der Jude
am Laternenpfahl.“ und „Jude verrecke im eigenen Drecke“.
Nach dem Pogrom wurden vor dem Amtsgebäude der Wiener Kultusgemeinde
SS-Wachen aufgestellt, und zwar vorgeblich, um sie vor weiteren
Attacken zu bewahren. Der Eingang wurde kontrolliert, die Juden
schikaniert. Die Kultusgemeinde hatte die nazistische Schutzstaffel
auch noch zu bezahlen. Die Juden mußten für die Schäden
haften, die ihnen im Pogrom angerichtet worden waren.
In einer Konferenz am 12. November 1938, einer „Besprechung über
die Judenfrage“, zu der Hermann Göring geladen hatte,
wurden die österreichischen Verhältnisse eigens gerühmt.
Göring zeigte sich vom Vorgehen in Wien begeistert. Mit dem
Pogrom selbst war er hingegen nicht ganz zufrieden. „Mir
wäre lieber gewesen, ihr hättet 200 Juden erschlagen,
und hättet nicht solche Werte vernichtet“, sagte
er.
Pogrom. 1941 setzten die großen Deportationen in die Mordfabriken
ein. Sie fanden zu allen Tageszeiten statt. Die Juden wurden auf
offenen Lastwägen zum Aspangbahnhof gebracht. Nicht wenige
Wiener riefen den Abfahrenden zum Abschied Gehässigkeiten
zu. Juden wurden auf offener Straße attackiert. Als ein älterer,
schwer kriegsinvalider Jude im Winter 1941/42 bei Glatteis ausglitt
und niederfiel, bat er die Passanten um Hilfe. Sie hoben ihn nicht
hoch. Erst nach drei Stunden und unter Mühe gelang es dem
Kriegsversehrten, sich allein aufzurichten; dabei brach er sich
seinen rechten Handwurzelknochen. Keine der Rotkreuz-Ambulanzen,
die zu jener Zeit noch Juden mitzunehmen hatten, wollte ihn abholen.
Tagelang mußte er unversorgt zu Hause liegen, bis er aus
eigener Kraft das Spital aufsuchen konnte.
Der Schriftsteller Franz Fühmann erinnerte sich: „Es
muß 1943 gewesen sein, im Sommer, in Wien, in der Rilkezeit,
da zeigte die Wochenschau Bilder aus einem Konzentrationslager,
und man sah drei Häftlinge mit dem Judenstern, die, offensichtlich
Mitte irgendeiner Kette, einander langsam Steine zureichten ...
Der Kommentator bemerkte, daß die Juden das erste Mal in
ihrem Leben arbeiteten, was man ja auch an dem rasanten Tempo ihrer
Bewegungen sehe, und das Publikum brüllte vor Lachen, und
ich erstarrte, denn man sah Sterbende mit verlöschender Kraft
die Arme ausstrecken und Steine von Sterbenden empfangen und Steine
an Sterbende weitergeben.
Es war ein österreichisches Gelächter; Gelächter
meines Heimatlandes“, schrieb Fühmann.
Ist dieses Gelächter heute gänzlich erstorben? Was
sich im Kino 1943 abspielte, ist ja nicht in der demokratischen
Republik, dem Mitgliedsstaat der Europäischen Union zu Beginn
des dritten Jahrtausends geschehen. Kurz nachdem 1995 im burgenländischen
Oberwart vier Roma durch eine Bombe ermordet worden waren, ging
in Wels eine als sogenannte Zigeuner verkleidete Gruppe in einem
Faschingsumzug mit. Als sie an der Festbühne vorbeizog, da
scherzte der Moderator: „Bitte jetzt keine Bomben werfen!“ Die
Menge johlte. War es das, was Franz Fühmann ein österreichisches
Gelächter nannte?
Der Massenmord an Roma und Sinti, den der Verein Erinnern nicht
vergessen macht, wurde jahrelang in Österreich nicht einmal
als jenes Verbrechen eingestanden, das es war. Die Opfer wurden
nicht anerkannt. Das Unrecht zu entschädigen, stand nicht
zur Diskussion. Im Gegenteil. Die Diskriminierung dieser Opfer
wurde in der Zweiten Republik weiter betrieben, als sei nichts
geschehen.
Wen wundert es? Das System war ausgetauscht worden. Aber die
Menschen nicht. Ihr Rassismus war nicht nur eine Modeerscheinung
gewesen, keine temporäre Entgleisung, keine überstandene
Infektionskrankheit wie etwa eine saisonale Grippeepidemie. Was
in jenen Nächten des November 1938 sich ereignete, rief beinah
keinen Widerstand gegen die Untaten hervor. Von Unmut über
die Anarchie und den Mob ist durchaus zu lesen, aber wo waren jene,
die für ihre Nachbarn, für ihre früheren Arbeitskollegen
oder Geschäftspartner eintraten .
Wir haben nichts getan, bringen viele zu ihrer Rechtfertigung
heute noch vor, und merken dabei gar nicht, wie sehr sie sich mit
diesen Worten selbst anklagen. Gewiß, der Nationalsozialismus
ist niedergerungen, was kaum ein Verdienst der heimischen Bevölkerung,
sondern der Alliierten war, wenn wir von wenigen Ausnahmen absehen,
von denen abzusehen, in Kärnten allerdings eine allzu beliebte
Praxis ist, weshalb ich mich an ihr nicht beteiligen will, sondern
vielmehr aussprechen muß, was offensichtlich ist. Der Widerstand
mag eine Randerscheinung geblieben sein, doch um so heroischer
können für uns die Wenigen wirken, die gegen die Verbrecher
aufstanden. Der Verein Erinnern gedenkt der Einzelnen, die sich
dem Nazismus und seinen Verbrechen verweigerten. Dies ist keine
Selbstverständlichkeit.
Ist es ein Zufall, wenn der Widerständler in Österreich
nicht in gebührender Art und Weise gedacht wird? Ist es ein
Wunder, wenn heute noch darüber gestritten wird, ob in Achtung
der slowenischen Minderheit zweisprachige Ortstafeln aufgestellt
werden? Wen muß erstaunen, daß damals die Mehrheit
versagte und zu keinem Widerspruch sich imstande sah, wenn heute
noch in diesem Land Einsprachigkeit gepriesen wird, ohne daß viele
zur Gegenrede finden? Solche Wahlkämpfe machen mich sprachlos.
Um so wichtiger, wenn von den Heldentaten des Widerstandes erzählt
wird. Wenn jene als Vorbild und nicht als Gefahr, nicht als Verräter
geehrt werden, die gegen das Regime ihr Leben einsetzten. Mich
erstaunt nicht, daß statt dessen die Mörder und ihre
Helfershelfer gerühmt werden, denn ich weiß, daß dort,
wo ich lebe, zwar Demokratie herrscht und sozialere Bedingungen
als an vielen anderen Orten, aber neben Staatsstruktur, neben politischem
System und Parlament existieren noch jene psychischen Mechanismen,
die einst bis nach Auschwitz führten.
Wir leben in einem Land, das sich nach dem Krieg alleinig als
erstes Opfer Hitlers zelebrierte. Der Effekt
für die Juden, aber auch für Roma und Sinti, war offenkundig.
Wenn der ganze Staat partout in die vorderste Reihe der Opfer drängeln
wollte, dann mußte er über die Leichenberge der Millionen
Ermordeten hinweg sehen und hinweg gehen. Als der österreichische
Bundeskanzler Julius Raab bei einem Gespräch über die
Restitutionsforderungen dem jüdischen Politiker Nahum Goldmann
erklärte: „Wir befinden uns in derselben Lage; beide
sind wir Opfer des Nazismus“, antwortete dieser: „Richtig,
Herr Bundeskanzler, ich bin ja auch eigentlich hergekommen, um
Sie zu fragen, wieviel Ihnen das jüdische Volk zahlen soll
...“
Die jüdischen Opfer wurden nach 1945 vorerst nur als „rassische“,
nicht aber als politische Opfer anerkannt. Sie fielen nicht unter
die Fürsorgemaßnahmen oder Begünstigungen. Sie
konnten sich die Gleichstellung mit den politischen Opfern des österreichischen
Widerstands erst 1947 erkämpfen.
Wozu alle Zitate aus den letzten Jahrzehnten hervorkramen? Wozu
von Leopold Kunschak, Oskar Helmer, Friedrich Peter, Michael Graff
oder Kurt Waldheim reden, wenn es doch erst wenige Wochen her ist,
da Jörg Haider, der vor fünf Jahren sich dafür entschuldigt
hatte, über Arie Muzicants Namen Witze gemacht zu haben, forderte,
den israelischen Botschafter aus Österreich auszuweisen. Die,
wie er sagte, „verantwortlichen Kriegstreiber in Israel“ wollte
er vor ein Tribunal bringen. Die Menschenrechtsverbrechen bei Saddam
Hussein hatten ihn ja nie interessiert. Gaddafi ist Haiders Freund.
Hierzulande hetzte er auch schon mal gegen Muslime, aber wenn es
gegen den Judenstaat geht, weiß er, wer die Schuldigen sind.
Da hat er keine Probleme. Als Arie Muzicant daraufhin kritisierte
, manche seien darauf aus, die „Tragödie im Nahen Osten
für den österreichischen Wahlkampf zu mißbrauchen“,
und von „Antisemiten“ sprach, bezeichnete Haider Muzicant
als einen der zionistischen Propagandisten im Westen.
Die Ausfälle des Landeshauptmann Haider führten aber
nicht zu einem heftigen Protest der anderen Parteien. Es war, als
zögen alle den Kopf ein, um nicht allzu viel Aufsehen zu machen.
Nach dem Stimmengang wurde gegen den „ beispiellosen US-israelischen
Schmutzkübel-Wahlkampf“ gewettert.
Es soll hier nicht so getan werden, als sei die Situation in Österreich
für die Kultusgemeinde schlecht. Nein, das jüdische Leben
blüht und gedeiht. Antijüdische Diskriminierung ist kaum
zu bemerken. Aber wenn hierzulande von einem schmutzigen Wahlkampf
die Rede ist, dann ist wohl nicht notwendig, auf die USA und Israel
oder, wie auch zuweilen gesagt wird, auf die Ostküste zu verweisen.
Es ist erst wenige Wochen her, da erlebten wir in diesem Staat
einen Wahlkampf, in dessen Verlauf eine politische Bewegung kurzerhand
versprach, 300.000 Menschen zu deportieren, während eine andere
Fraktion offen gegen die Menschen einer Religion, gegen Muslime
hetzte.
Niemand glaube, diese Kampagnen hätten keinen Effekt auf
das Leben der Muslime in Österreich, auf das Leben von allen,
deren einziges Vergehen darin besteht, daß ihr Name, ihr
Aussehen, ihre Religion vielen so genannten Bodenständigen
nicht heimisch genug scheint.
In Wien, in der Leopoldstadt da lebe ich, da gehe ich vorbei
an den Plätzen, an den Häusern, an den Wohnungen, wo
am 9. November 1938 Menschen gejagt, verprügelt oder erschlagen
wurden. Ich quere die Salztorbrücke, um dorthin zu gelangen,
wo die Erinnerung mich hinzieht, wo die Silhouetten von Kindern
an die Kaimauer gemalt sind und hier ist auch festgehalten, wer
dieses Graffiti pinselte. Von den Zöglingen aus der Sperlgasse
stammen die Schemen. Ich gehe daran vorbei, ohne nach den Schülern
und Schülerinnen früherer Jahrgänge zu sehen. Manche
von ihnen, in mir hallen ihre Stimmen wider, schaffen es noch auf
ein Donauschiff, um nach Palästina zu fliehen, ehe ihre Klassenräume
zum Sammellager werden für jene, deren Fluchtwege bereits
versperrt sind und die verschleppt werden in die Vernichtungslager,
von denen ihre Nachbarn nichts gewußt haben werden. Ich spaziere über
den Kanal und bleibe nicht an dem durchpfeilten Herzen in der Karmelitergasse
stehen, nicht, an jener Häuserwand, wo geschrieben steht,
daß ein Peter seine Susi liebt, und nur wenige Meter danach,
wird mir verkündet, wen es heute zu killen gilt, und zwar,
wie der Schrift zu entnehmen ist, weil jene, die zu ermorden sind,
allesamt Verbrecher, Drogenhändler wären. Ich gehe daran
vorbei, wie die meisten Wiener, die solche Schmierereien nicht
beachten und nicht bekümmert. Wir schauen weg, als komme es
nicht darauf an, die Stimme gegen Rassismus zu erheben. Was aber,
wenn heute ein Kind hier entlang geht, daß eben Lesen lernt,
daß neugierig, wie auch wir einmal waren, alle Wörter
sich buchstabiert, daß von den Sätzen kostet und vom
Entsetzlichen, weil es plötzlich erfährt, daß es
heute zu jenen gezählt wird, die nicht hierher gehören;
nicht in diese Straße, nicht in diese Stadt, nicht in dieses
Land, nicht auf diese Welt?
Immerhin: Österreich ist eine Demokratie und ein Rechtsstaat.
In anderen Staaten finden Pogrome und sogar Genozide statt, und
in vielen Hauptstädten dieses Erdballs wird auch wieder gegen
Juden gehetzt. Der iranische Präsident Ahmadinedschad etwa
fordert die Auslöschung Israels und bezweifelt, daß die
nationalsozialistischen Massenmorde sich je ereigneten. Sein Verbündeter,
der Führer der libanesischen Hisbollah Nasrallah habe, lese
ich, gesagt, er wünsche sich, daß alle Juden nach Israel
einwandern sollen, denn dann müsse die Hisbollah ihnen nicht
auf der ganzen Welt nachrennen, um sie umzubringen. So soll er
sich ausgedrückt haben. Er spricht von allen Juden als Nachkommen
von Affen und Schweinen.
Wir stehen heute vor einem neuen globalisierten Antisemitismus,
der in unseren Breiten gerne verharmlost wird, weil er sich gerne
antiimperialistisch gibt. Die Erinnerung aber an die Tage nach
dem 9. November 1938 läßt erkennen, daß von der
rassistischen Kampagne zum Massenmord ein direkter Weg verläuft.
Initiativen wie der Verein Erinnerung sind von einer Bedeutung,
die nicht bloß regional ist. Vom Novemberpogrom gilt es zu
sprechen, weil bekannt ist, was davor und danach geschah. Vom Novemberpogrom
gilt es zu sprechen, weil eine Mordphantasie, eine Schreckensutopie,
die einmal verwirklicht wurde, nicht mehr aus der Welt geschafft
werden kann. Sie bleibt unter uns als dauernde Möglichkeit,
weswegen alles getan werden muß, um ihre Wiederholung zu
verhindern. Vom Novemberpogrom gilt es zu sprechen, weil wieder
manche von der Auslöschung jüdischen Lebens träumen.
Es ist beinah lächerlich, so verrückt mag es erscheinen,
aber dennoch wahr. Schon wieder gibt es Staatsmänner, ob in
Malaysia oder im Iran, die alles Unglück dieses Universums
diesem einen kleinen Volk von etwa zwölf Millionen anlasten.
Ich rede zu ihnen als Angehöriger einer Menschengruppe, deren
globale Auslöschung mancherorts immer noch ersehnt wird.
Kaum sage ich das, fürchte ich mißzuverstanden zu
werden, denn wer heute gegen den modernen und neuen Antisemitismus
sich wendet, steht schon unter Verdacht, gegen Frieden und Verständigung
zwischen Juden und Arabern zu polemisieren. Der Kampf gegen Chauvinismus
und Rassismus sei nichts als Kriegspropaganda für Israel,
heißt es nicht selten. So weit sind wir dieser Tage schon.
Das Gegenteil ist wahr. Frieden wird eher möglich sein,
wenn der Kampf gegen Rassismus verstärkt wird. Vergessen gemacht
wird Geschichte nicht wegen der vergangenen Untaten, sondern der
gegenwärtigen Machtverhältnisse, Ungerechtigkeiten und
Verbrechen wegen. Juden werden nicht trotz, sondern wegen Auschwitz
wieder gehaßt. Sie sind das wandelnde schlechte Gewissen
der Täter und aller, die sich mit der Untat identifizieren.
Die Antisemiten können den Juden nicht verzeihen, was sie
ihnen angetan haben. Der Massenmord wird wider besseres Wissen
abgestritten, um Lust auf den nächsten zu machen. In iranischen,
libanesischen, syrischen oder auch ägyptischen Fernsehsendungen
wird gegen die Juden gehetzt, wird das antisemitische Machwerk „Die
Protokolle der Weisen von Zion“ verfilmt.
Frei nach Sartre läßt sich sagen, daß solange
ein Jude, ein Roma, ein Afrikaner auf dieser Welt sich seines Lebens
nicht sicher sein kann, bloß, weil er Jude, Roma, Afrikaner
ist, kein Mensch seines Lebens sicher sein wird.
„Es brent Brider es brent/Oj es kon cholile kumn der Moment/As
di Schtot mit uns zusamn/Sol ojf Asch awek in Flamn/Blajbn sol
- wi noch a Schlacht/Nor pusste schwarze Went
Un ir schtejt un kukt asoj sich/- mit farlejgte Hent/Un ir schtejt
un kukt asoj sich/- unser Schtetl brent.
Es brent Brider es brent/Di Hilf is nor an ajch alejn gewent/Ojb
dos Schtetl is ajch tajer/Nemt di Keilim lescht dos Fajer/Lescht
mit ajer ejgn Blut/Bawajst as ir dos kent
Schtejt nit Brider ot asoj sich/- mit farlegte Hent/Schtejt nit
Brider lescht dos fajer/- unser Schtetl brent“
Das Lied von Mordechai Gebirtig aus dem Jahre 1938. Gebirtig
sah den Mord der jüdischen Welt voraus und rief zum Widerstand
dagegen auf. Am 4. Juni 1941 wurde Mordechai Gebirtig im Krakauer
Ghetto auf offener Straße erschossen.
Pogrom. Das Gedenken herbstelt - und die Verhältnisse in
der Gegenwart und die Widerwärtigkeit der Verhältnisse
zwingen zur Erinnerung, so ich nicht der Selbstvergessenheit verfallen
will. Deshalb setzte ich mich heute in den Zug, um von Wien, wo
heute auch eine Gedenkveranstaltung stattfindet, direkt hierher
nach Villach zu fahren.
Pogrom. Das Erinnern ruft nicht nach Revisionismus oder Revanche,
sondern sehnt sich nach einer Zukunft für alle Menschen, nach
einer Zukunft jenseits von Rassismus und Genozid. Das Erinnern
fordert uns auf, nicht untätig zu bleiben, wenn wieder gegen
Menschen anderer Herkunft gezündelt wird, wenn der Haß wieder
hoch flammt. Es brennt, Brüder - und Schwestern -, es brennt.
Nur Ihr könnt euch selbst helfen. Di Hilf is nor an ajch alejn
gewent. Steht nicht, Brüder, mit verschränkten Armen,
sagt uns Mordechai Gebirtig. Steht nicht, Brüder, löscht
das Feuer. Der Verein Erinnern hilft und bewahrt hier die Namen
der Ermordeten im Gedächtnis. Sie zu vergessen, hieße,
die Toten ein zweites Mal auszumerzen, sie wiederum zu töten.
Nach Villach zum Verein Erinnern wollte ich gelangen, weil hier
an die Opfer gemahnt wird, weil hier von dem Widerstand die Rede
ist, weil hier jener gedacht wird, die allzu lange verschwiegen
wurden und als Unerhörte, in jeder Bedeutung des Wortes, galten.
Es ist gut zu wissen, daß ihnen hier Respekt gezollt wird.
Ansprache gehalten in
der evangelischen Kirche Stadtpark Villach am 11. November 2006, anlässlich
des Gedenkens an das Judenpogrom November 1938.
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