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Erinnern oder Missbrauch der Vergangenheit?
Vom
Aussondern zum Auslöschen
von Werner Wintersteiner
Wenn wir heute der Toten gedenken, deren Lebensdaten
auf dem Denkmal festgehalten sind, so bewegt uns – wie bei
allen Verstorbenen – die Unausweichlichkeit des Todes, der
auch, früher oder später, wer kann das wissen, unser
eigenes Schicksal ist.
Wenn wir heute aber gerade dieser toten Opfer des Nationalsozialismus
gedenken, die auf den Tafeln des Denkmals gewürdigt werden,
so kommt eine ganz andere Dimension hinzu: Es sind Menschen, deren
Tod vor der Zeit gekommen ist, genauer gesagt: deren Tod bewusst
und mit Absicht herbeigeführt wurde. Diese Menschen sind nicht
einfach gestorben, sondern sie wurden ermordet oder in den Tod
getrieben. Zur Trauer um die Toten kommt die Empörung über
das Verbrechen.
Doch noch ein Drittes ist vom Tod derer zu sagen, deren Namen
auf diesem Denkmal stehen: Sie sind nicht einfach einzelnen Mördern
zum Opfer gefallen, die im Affekt oder aus Habgier getötet
hätten, sondern sie wurden von einem mörderischen Regime
systematisch als zukünftige Opfer identifiziert, ausgesondert,
und kaltblütig, systematisch, mit penibler bürokratischer
Organisation, umgebracht. Zu unserer Trauer um die Toten, zu unserer
Empörung über das Verbrechen gesellt sich noch das Entsetzen,
dass es möglich war, diese Menschen so planvoll, so öffentlich
und so legal zu töten. Hier bei uns, in dieser Stadt, in diesem
Land, von Menschen der bloß zweiten Generation vor der heutigen
Zeit.
Wenn wir dieser ermordeten Opfer eines mörderischen Systems
gedenken, so machen wir keinen Unterschied, ob es sich um eine
Sinti-Mädchen aus Seebach handelte, um einen psychisch kranken
Villacher oder um einen russischen Zwangsarbeiter. Die Erinnerung
diskriminiert nicht.
Und das macht die Besonderheit des Erinnerns aus, wie wir es
pflegen wollen. Es ist ja nicht so, dass man sich hierzulande zu
wenig mit der Vergangenheit beschäftigen würde. Ganz
im Gegenteil. Kärnten ist wohl ein Paradebeispiel eines Landes,
in dem es zu viel Geschichte pro m² gibt. Eines Landes, bei
dem die Geschichte manchmal die Gegenwart zu überschatten,
zu dominieren, ja zu verzehren scheint. Das hängt damit zusammen, wie hier
mit der Vergangenheit umgegangen wird.
Es besteht die Gewohnheit, die Vergangenheit zu funktionalisieren,
sie für die Gegenwart dienstbar zu machen, aber ohne sich
vorher wirklich mit ihr auseinander zu setzen. Häufig wird
die Vergangenheit nicht erinnert, sondern es werden Stereotype
abgerufen, die für Zwecke in der Gegenwart nützlich erscheinen.
Wenn jahrelang solche Versatzstücke aus der Vergangenheit
bemüht werden, dann entsteht eine ganz eigenartige neue Tradition,
die – wie eine Art Parallelaktion – an die Stelle der
eigentlichen Geschichte und der historischen Fakten geschoben wird.
Was man tut, ist im Grunde kein Erinnern mehr, sondern ein Wiedererkennen
und Wiederaufrufen von wenigen vorgefertigten Bildern. Diese fixen
Bilder werden als Waffe in der heutigen Politik eingesetzt, um
die eigenen Ansprüche zu legitimieren und die legitimen Ansprüche
der Anderen zu erschüttern. Sie werden verwendet, um die Angst
vor dem Anderen zu schüren, ein fragwürdiges Wir-sind-wir-Gefühl
zu stärken, sich selbst als Opfer hochzustilisieren und damit
jede Rücksichtslosigkeit anderen gegenüber zu rechtfertigen.
Ich nenne einige: die so genannte Kärntner Urangst vor
den Slowenen, die Verbrechen, die unserem Volk angetan wurden,
die Benachteiligung Kärntens durch die Wiener, die
Zentralregierung, durch Europa usw. Setzen Sie ruhig ein, was gerade
politisch opportun ist.
All diese falschen und gefährlichen Stereotypen wecken die
Gefühle von real erlittenem Unrecht, sie decken aber die wirkliche
Erinnerung daran sogleich wieder zu. Sie machen wirkliche Erinnerung
unmöglich, weil sie ihr im Klischee bereits einen scheinbar
gültigen Ausdruck verleihen: Mit Urangst ist bereits
alles gesagt, was man sagen kann, damit sind starke Gefühle
geweckt, damit werden die echten Ängste angesprochen, aber
nicht ausgesprochen. Reale Sorgen werden in Ressentiments verwandelt. Über
diese Emotionen lässt sich nicht mehr ruhig diskutieren.
Was wir hingegen dringend brauchen, und was – wie ich überzeugt
bin – die Arbeit des Vereins Erinnern auszeichnet – ist
eine echte Kultur der Erinnerung. Es geht ja nicht um irgendeine
Erinnerung an eine beliebige Vergangenheit, sondern um die gezielte
und exemplarische Erinnerung an den großen, den tragischen,
den historischen zivilisatorischen Rückschritt im vorigen
Jahrhundert, den der Nationalsozialismus darstellt. Was wir gegenüber
der NS-Zeit brauchen, ist ein Erinnern, das aus drei Schritten
besteht:
- Die vorurteilsfreie Begegnung mit den Fakten der Vergangenheit,
voller Respekt, Mitgefühl und Empfindsamkeit mit allen Opfern
und gegenüber jedem Unrecht. Nur aus dem Mut zu dieser
offenen Begegnung mit dem Vergangenen erwächst Trauer.
- Die Bereitschaft, aus der Geschichte zu lernen, was über
das Mitfühlen mit den Opfern hinausreicht. Wir müssen
auch auf die Täter eingehen, nicht um sie zu entschuldigen,
sondern um zu begreifen, wir müssen auch ihr politisches
System, die Kultur und den Alltag erforschen. Aus der Geschichte
lernen ist viel mehr als das gut gemeinte, aber nur gefühlsmäßige Nie
wieder! Es heißt, ein tieferes Verständnis dafür
zu entwickeln, wie es zu den Verbrechen der Vergangenheit kommen
konnte. Und das heißt zugleich zu verstehen, welche dieser
Voraussetzungen, Strukturen, Elemente heute noch immer vorhanden
sind oder relativ leicht wieder eintreten könnten. Welche
Umstände auch heute noch oder heute wieder einen zivilisatorischen
Rückschritt möglich machen.
- Und drittens soll uns die Erinnerung befähigen zum Handeln
in der heutigen Politik. Ein Handeln, das darauf gerichtet sein
muss, allen Anfängen zu wehren und die Lektionen der Vergangenheit
zu beherzigen.
Dieser Lektionen sind viele. Ich möchte heute, abschließend,
nur auf eine einzige eingehen, die mir heute besonders dringend
erscheint. Diese Lektion lautet: Es beginnt mit dem Aussondern.
Dem Vernichtungshandeln ist das Vernichtungsdenken vorausgegangen.
Den Beginn aber stellte immer die Aussonderung von Menschen dar.
Diese Aussonderung erfolgt zuerst ideell, durch Bezeichnen, durch
die Unterscheidung in solche, denen das volle Recht auf Menschsein
zugestanden wird, und in die Anderen, die Fremden, die Falschen,
die, die unser Unglück sind, die uns wie eine Flut
bedrohen, die nicht dazu gehören – die, die
als illegal bezeichnet werden. In Krisenzeiten aber wird
aus dieser Unterscheidung konkret und im Alltag exekutiert. Die
Ausgesonderten müssen besondere Kennzeichen tragen, es gelten
besondere Vorschriften für sie, es ist ihnen vieles nicht
mehr erlaubt, was den Normalbürgern erlaubt ist. Die, die
als anders bezeichnet wurden, werden nun gezwungen, tatsächlich
Andere zu sein.
Natürlich haben wir diese Zustände überwunden.
Wir haben einen funktionierenden Rechtsstaat und eine gelebte Kultur
der Gleichberechtigung und des friedlichen Zusammenlebens. Umso
aufmerksamer sollten wir daher gegenüber allen Signalen und
Versuchen sein, die Bevölkerung wieder aufzuspalten in solche
mit vollen Bürgerrechten und in die anderen, die Unerwünschten,
die Ungehörigen, die Illegalen.
Im Hinblick auf die Vergangenheit, derer wir heute gedenken, ist es sehr beunruhigend
zu sehen, wie manche Politiker nach wie vor – und heute wieder mehr denn
je –einen Teil der Bevölkerung diskriminieren, um daraus politisches
Kapital zu schlagen. Ich nenne drei Beispiele:
- die mit absurden Argumenten begründete, aber psychologisch
immer noch wirksame Verweigerung der vollen Rechte der Kärntner
SlowenInnen und Slowenen. Welches Feuer dumpfer Ressentiments
wird da unter der Asche des Vergessens immer wieder angeblasen?
- die pauschale Verdächtigung der islamischen Mitbürgerinnen
und Mitbürger, Komplizen des Terrorismus zu sein. Zum Beispiel:
der diskriminierende und beleidigende Plan, im Landtag einen Beschluss
gegen Moscheen und Minarette in Kärnten fassen.
- die bestehenden Ausländergesetze, die negative Grundhaltung
gegenüber MigrantInnen, und die Tatsache, dass Österreich
Europas Schlusslicht bei der Integrationspolitik ist. Heute drohen
Politiker damit, für Asylwerber das Recht auf Datenschutz
aufzuheben und mögliche Strafregister zu veröffentlichen.
Man tut so, als würden ein paar tausende Menschen, die materielle
Not, Verfolgung und Verzweiflung zu uns gebracht hat, jene 8 Millionen
bedrohen, die die Wohlstandsinsel Österreich, eines der reichsten
Länder der Welt, bewohnen. Das ist ein unseliger Geist aus
der Vergangenheit, der heute kräftig bei uns weht.
Dagegen muss es Widerstand geben, und dagegen gibt es Widerstand. ÖsterreicherInnen,
die sich mit den MigrantInnen ihrer Nachbarschaft solidarisieren,
die abgeschoben werden sollen; Menschen, die jahrzehntelang den
Kärntner Slowenen ihre Rechte abgesprochen haben und die nun
Einsicht zeigen, die sie sich im Dialog mit ihren ehemaligen Gegnern
zusammenfinden, um Kärnten neu zu denken. Kärnten
neu denken, das wäre auch für uns eine Aufgabe – dann
wird Erinnern zu einer Kraftquelle, unsere Gegenwart zu meistern
und eine demokratischere und lebenswerte Zukunft zu eröffnen – für alle Menschen,
die in diesem Lande leben.
Rede von Werner Wintersteiner gehalten am 25. 10. 2007 anlässlich
der Wiedereröffnung
des Denkmals der Namen in der Stadt Villach
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